15. Dezember 2021
THESENPAPIER VON PROF. DR. ARMIN PFAHL-TRAUGHBER
Ab wann sind Einwände gegen die israelische Politik antisemitisch?
In der Debatte, wann Kritik an Israel antisemitisch ist und was legitime von nicht-legitimer Kritik unterscheidet, herrscht oft Unklarheit. Politikwissenschaftler und HAI-Beirat Armin Pfahl-Traughber stellt 20 Thesen vor, die zu einer Versachlichung der Debatte beitragen sollen.
1. Ausschreitungen vor Synagogen in Deutschland, wobei „Judenschweine“ gerufen wird, um angeblich gegen Israels Politik zu demonstrieren, sind antisemitisch, da Juden pauschal diffamiert und Juden ebenso pauschal mit Israels Politik identifiziert werden.
2. Das aktuelle Beispiel macht darauf aufmerksam, dass sich der Antisemitismus in der autochthonen wie migrantischen Bevölkerung auch und gerade in der Feindschaft gegen Israel artikuliert (Bezeichnungen: „antizionistischer“ oder „israelbezogener Antisemitismus“).
3. Darüber, ab wann Einwände gegen die israelische Politik als antisemitisch eingeschätzt werden können, wird emotionalisiert, polarisiert und undifferenziert gestritten, wobei meist keine klare Begriffsdefinition des Gemeinten genutzt wird.
4. Ausgangspunkt für die Betrachtung ist die folgende Definition: „Antisemitismus“ ist eine Sammelbezeichnung für alle Einstellungen und Handlungen, die den als Juden geltenden Einzelpersonen oder Gruppen aufgrund dieser Zuschreibung negativ gegenüber stehen.
5. Bedeutsam für die Analyse ist auch die Kategorie „antisemitische Wirkung“, wobei es um die (bewusst) beabsichtigten oder (objektiv) möglichen Folgen von politischen Forderungen geht, etwa bezogen auf das Existenzrecht Israels und eine Sicherheit von Juden.
6. In einer Gesellschaft mit einem öffentlichen anti-antisemitischen Grundkonsens besteht eine besondere Rahmensituation, worin Antisemitismus nicht in offenen Bekundungen, sondern in Codierungen oder einer Umwegkommunikation erfolgt.
7. Bei Codierungen geht es um Formulierungen, die meist auf klassischen judenfeindlichen Auffassungen beruhen und in einer scheinbar unverdächtigen Form vorgetragen werden: „Auserwählte“, „Finanzkapital“, „Globalisten“, „Kindermörder“, „Nasen“, „Rachegeist“.
8. Beim Antisemitismus in einer Umwegkommunikation geht es darum, die judenfeindlichen Auffassungen in nicht dezidiert jüdischen Kontexten zu artikulieren, wobei die häufigste Form der Gegenwart eben bei der Feindschaft gegen Israel auszumachen ist.
9. Die folgenden Ausführungen differenzieren „Israelfeindschaft“ und „Israelkritik“, wobei im erstgenannten Fall von einer einseitigen und rigorosen Frontstellung und im zweiten Fall von abwägenden und kontextbezogenen Positionen ausgegangen wird.
10. Damit deutet sich bereits die Auffassung an, wonach bestimmte Gesichtspunkte bei der Kommentierung der israelischen Politik für oder gegen eine antisemitische Prägung sprechen, wobei hier für eine idealtypische Differenzierung in einem dreifachen Sinne plädiert wird:
11. Die erste Auffassung soll „israelbezogener Antisemitismus“ genannt werden und meint eine Feindschaft gegen Israel aufgrund eben seiner jüdischen Identität im Einklang mit bekannten antisemitischen Stereotypen oder der Identifizierung aller Juden mit Israel.
12. Die zweite Auffassung soll „antiimperialistische Israelfeindlichkeit“ genannt werden und meint eine nicht-antisemitische, aber einseitig motivierte Auffassung, die stereotyp in Israel für den Nahost-Konflikt den alleinigen oder hauptsächlichen Verantwortlichen sieht.
13. Und die dritte Auffassung soll als „menschenrechtliche Israelkritik“ bezeichnet werden, womit die normative Grundlage für die Kritik genannt ist, welche differenziert den Kontext berücksichtigt und bei Israels Feinden Menschenrechtsverletzungen auch verurteilt.
14. Bedeutsam an der Mittelposition ist, dass von einer einseitigen und falschen Auffassung gegenüber Israel gesprochen werden kann, ohne einen dabei nicht vorhandenen Antisemitismus zu unterstellen, was indessen die Position nicht unproblematisch macht.
15. Damit kann eine Denkfalle überwunden werden, welche nur antisemitische Israelfeindlichkeit und differenzierte Israelkritik kennt und damit gegenüber abgelehnten Auffassungen pauschalierende und unangemessene Zuordnungen vornimmt.
16. Eine „antiimperialistische Israelfeindlichkeit“ kann angesichts ihrer Ignoranz gegenüber der Bedrohungslage für den Staat und den Absichten seiner Gegner keine sachliche Angemessenheit beanspruchen, auch wenn sie nicht-antisemitisch motiviert ist.
17. Die Differenzierung ist idealtypisch und fordert für die Praxis immer wieder analytische Tiefenbohrungen, wobei es um die motivierende Ausgangsbasis der Einwände gegen die israelische Politik geht und eben auch Wirkungen mit zu berücksichtigen sind.
18. Jede nicht-antisemitische israelfeindliche wie israelkritische Auffassung muss sich aber auch darüber im Klaren sein, dass sie judenfeindlich rezipiert werden kann und sich entsprechend inhaltlich so ausrichten, dass sie möglichst nicht so wirkt.
19. Ein klares Bekenntnis zum Existenzrecht des Staates Israel wie eine Berücksichtigung von dessen legitimen Sicherheitsinteressen gehört dazu ebenso wie die politische Kritik an den Positionen und Praktiken der jeweiligen Feinde des jüdischen Staates.
20. Auch ohne Antisemitismus ist daher eine Israelfeindlichkeit ein Problem, trägt eine solche Auffassung doch diskursiv weder zu einer sachlichen Debatte noch politisch zu einer gerechten und friedlichen Klärung des Nahost-Konflikts bei.
Prof. Dr. phil. Armin Pfahl-Traughber, Politikwissenschaftler und Soziologe, ist hauptamtlich Lehrender an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl und Lehrbeauftragter an der Universität Bonn. Arbeitsschwerpunkte sind „Politischer Extremismus“ und „Politische Ideengeschichte“. Er gibt das „Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung“ heraus. Pfahl-Traughber gehörte den beiden Unabhängigen Expertenkreisen Antisemitismus des Deutschen Bundestages an.
Zum Weiterlesen:
Armin Pfahl-Traughber, Antisemitismus als Feindschaft gegen Juden als Juden, in: Der Bürger im Staat, 63. Jg., Nr. 4/2003, S. 252–261.
Armin Pfahl-Traughber, Antizionistischer Antisemitismus, antiimperialistische Israelfeindlichkeit und menschenrechtliche Israelkritik. Kriterien zur Differenzierung und Einordnung von Positionen im Nahostkonflikt, in: Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung. Bd. 24, Berlin 2015, S. 295–315.
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