Interview mit Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber • 31.05.2021
Formale Bildung allein schützt nicht vor Verschwörungsideologien
Verschwörungsideologien haben durch die Corona-Krise neuen Aufschwung erhalten. Doch was macht eine Verschwörungsideologie eigentlich aus, und welche Personengruppen sind besonders anfällig für sie? Politikwissenschaftler und HAI-Beirat Armin Pfahl-Traughber im Gespräch.
In Bezug auf die Corona-Leugner wird derzeit viel über Verschwörungstheorien diskutiert – ein Begriff, der insbesondere auch von dem Philosophen und Kritischen Rationalisten Karl Popper popularisiert wurde. Wodurch zeichnet sich eine Verschwörungstheorie laut Popper aus?
Im zweiten Band von „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ gibt es kurze Ausführungen zu einer – so die Formulierung von Popper – „Verschwörungstheorie der Gesellschaft“. Er meinte damit die Auffassung, wonach bestimmte Gruppen durch konspirative Handlungen ein soziales Phänomen bewirken. Die Attraktivität derartiger Denkweisen erklärte sich Popper dadurch, dass menschliche Aktivitäten in der Gesellschaft gern auf einen konkreten Plan zurückgeführt werden würden. Indessen hielt er diese Auffassung für wirklichkeitsfremd, dem von ihm auch kritisierten Historizismus entsprechend. Als Beispiele nannte Popper unterschiedliche Vorstellungen, etwa die von einer jüdischen oder kapitalistischen Verschwörung. Er sah darin auch einen Religionsersatz. Indessen beließ es Popper bei diesen eher knappen Reflexionen, ohne daraus eine systematische Erklärung für das Gemeinten abzuleiten.
Was ist heute gemeint, wenn von Verschwörungen die Rede ist?
Kurz definiert könnte man sagen: Es handelt sich um eine geheime Übereinkunft von zwei oder mehr Personen, die ein bestimmtes Ziel verfolgen. Damit nicht auch die Geburtstagsüberraschung in diese Kategorie eingeordnet wird, wäre eine Einschränkung auf gesellschaftlich, politisch oder wirtschaftlich relevante Ziele sinnvoll. Wer nun über reale Verschwörungen spricht, der sollte Belege vorbringen, und zwar bezogen auf die angeblichen Akteure, den Konspirationsbeschluss und die konkrete Zielsetzung. Für die Attentate auf Cäsar, Franz Ferdinand oder Hitler lassen sich solche Nachweise vorbringen. Insofern handelte es sich auch um reale Verschwörungen.
Bei Verschwörungsideologie gibt es solche Belege indessen nicht, stattdessen wird mit diffusen Andeutungen und Unterstellungen gearbeitet. Mitunter besteht ein wahrer Kern, der dann aber in Richtung einer Verschwörungsvorstellung verallgemeinert wird. So sind etwa viele Fragen zum 11. September immer noch ungeklärt, es können auch nachvollziehbare Einwände gegenüber bestimmten offiziellen Positionen vorgenommen werden. Doch daraus ergibt sich nicht notwendigerweise, dass die terroristischen Anschläge nicht auf Al-Qaida zurückzuführen sind oder gar dass der CIA oder der Mossad dafür verantwortlich waren. Genau dafür fehlen eben die Belege bei den Konspirationsideologen. Dass etwa die eigenen Fehler von US-Nachrichtendiensten relativiert oder vertuscht werden sollten, ist dann als Gedanke in Verschwörungsideologen nicht präsent. Alles wird auf das Bild einer großen Konspiration – von welchen Kräften auch immer – bezogen, woraus man ein ganzes Weltbild bastelt.
Demnach wäre es ja durchaus wichtig, auch begrifflich zwischen echten Verschwörungen und Verschwörungsideologien zu unterscheiden, oder?
Ja. „Verschwörung“ steht für ein reales konspiratives Vorgehen, wofür es Belege über Handelnde, Planungen und Vorgehensweisen gibt. Eine „Verschwörungshypothese“ stellt eine Annahme dar, welche ein Ereignis eben als Konspiration deutet und dafür nachvollziehbare Anhaltspunkte benennt. Wenn sie sich als Belege nicht als tragfähig erweisen, würde man die Hypothese dann wieder aufgeben. Genau dies vermeiden die Anhänger einer „Verschwörungsideologie“, die ihre Behauptungen eben nicht einer kritischen Prüfung an der Realität aussetzen. Genau diesen Anspruch forderten auch Karl Popper und Hans Albert ein, insofern kann man in ihnen auch differenzierte Kritiker von allgemeinen Konspirationsvorstellungen sehen. Die Bezeichnung „Verschwörungstheorie“ lehne ich demgegenüber ab, „adelt“ sie doch zu sehr das gemeinte Denken und stellt es begrifflich etwa mit der „politischen Theorie“ gleich.
Welche Personengruppen sind historisch betrachtet besonders anfällig für Verschwörungsideologien? Gibt es da politische oder soziale Besonderheiten?
Mit einem historischen Blick lässt sich bis in die Gegenwart hinein sagen: Es waren insbesondere die Individuen, die eine einfache Erklärung für einen komplexen Umbruchprozess suchten: Wie konnte es zur Französischen Revolution kommen? Für viele Adelige war es eine „freimaurerische Verschwörung“. Wie konnte es zur Russischen Revolution kommen? Für viele Monarchisten war es eine „jüdische Verschwörung“. Gerade diese Konspirationsvorstellung fand sich in den unterschiedlichsten Zusammenhängen. Wie konnte es sein, dass Israel alle Kriege von arabischen Nachbarstaaten überstand? Nicht nur Islamisten führten dies auf eine „jüdische Macht“ zurück. Woher kommt Corona? Manche meinen, George Soros habe das um der „jüdischen Weltherrschaft“ willen so inszeniert. Statt differenzierte und komplexe Erklärungsmodelle, die auf unterschiedliche Einflussfaktoren verweisen, trägt man monokausale und stereotype Verschwörungsideologien vor.
Indessen sollte nicht davon ausgegangen werden, dass formal höhere Bildung vor derartigen Konspirationsvorstellungen grundsätzlich immunisiert. Gerade nach der Französischen Revolution waren insbesondere Gebildete davon überzeugt, dass Freimaurer und Illuminaten die dafür verantwortlichen Verschwörer waren. Zu damals bedeutsamen Autoren gehörte ein bekannter Geistlicher ebenso wie ein angesehener Mathematiker. Ein einflussreicher Konspirationsideologe ist auch heute noch aller Welt bekannt: der Automobilkonzernbegründer Henry Ford, der ein fanatischer Antisemit war und die Juden hinter allen nur möglichen Verwerfungen sah. In seinem Buch „Der internationale Jude“ machte er sie für Hollywood, Kriminalität, Revolutionen oder Sittenverfall verantwortlich. Formale Bildung schützt nur dann vor Konspirationsvorstellungen, wenn sie eben auch damit einhergeht, inhaltliche Aussagen kritisch an der sozialen Realität zu überprüfen.
“Wenn derartige Auffassungen heute noch lange nach der Aufklärung größere Verbreitung finden, dann hat die Ideologiekritik des Kritischen Rationalismus wie der kritischen Prüfung weiterhin viel zu tun.”
Wie weit sind Verschwörungsideologien derzeit in Deutschland verbreitet?
Was das Ausmaß an verschwörungsideologischen Einstellungen in der Gegenwart angeht, da fehlt es an breiter angelegten empirischen Studien. Einschlägige Einstellungen werden meist nur im Kontext von empirischen Umfragen erhoben, welche extremistische Einstellungen erfassen wollen. Manchmal gibt es auch Datenerhebung, die dann aber keine Repräsentativität beanspruchen können. Das gilt etwa für die Arbeiten über die Corona-Leugner und deren Protestbewegungen. Eine Ausnahme ist eine interessante Befragung, die im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung 2020 eben im repräsentativen Sinne durchgeführt wurde. Demnach meinte ein Drittel, dass geheime Mächte sicher oder wahrscheinlich die Welt regieren. Sicher meint dies ein Zehntel. Hier waren es insbesondere Befragte mit formal geringerer Bildung, die derartige Auffassungen hatten, wobei sie an unterschiedliche Verschwörungen glaubten. Anhänger dieses Denkens waren auch eher ältere Menschen.
Bezogen auf die politische Ausrichtung ergab sich ein erwartbares Ergebnis: Insbesondere AfD-Wähler zählten zu den Verschwörungsgläubigen. Es war sogar knapp über die Hälfte, die eine Existenz von geheimen Mächten zur Weltsteuerung für möglich hielt. Diese aktuelle Erkenntnis lässt sich auch für frühere Zeiten verallgemeinern. Eher eine rechte Auffassung und weniger die formale Bildung war Konspirationsanhängern eigen. So begeisterte eine antisemitische Fälschung wie die „Protokolle der Weisen von Zion“ auch viele Studenten in der Weimarer Republik. Indessen sind auch in esoterisch geprägten Kreisen heute diffuse Verschwörungsvorstellungen verbreitet. In linken Kontext kommt dies seltener vor und steht dort eher für einen Niveauverlust. Bekanntlich war „Das Kapital“ und nicht „Der Kapitalist“ Marx‘ wichtigstes ökonomisches Werk. Eine personenfixierte Kapitalismuskritik steht von daher, worauf auch Popper aufmerksam machte, eher für Vulgärmarxismus.
Wie kommt es, dass Verschwörungstheorien häufig mit antisemitischen Feindbildern einhergehen? Da lassen sich ja lange Kontinuitätslinien feststellen …
Ideen- und realgeschichtlich waren die Juden immer wieder die soziale Gruppe, die mit konspirativem Wirken in Verbindung gebracht wurden. Bereits im Mittelalter kursierten die Behauptungen von der „Brunnenvergiftung“ und dem „Ritualmord“. Im ersten Fall sollten sich Juden verschwörerisch zusammengetan haben, um die Brunnen zu vergiften, womit man sich dann das Aufkommen der Pest erklärte. Bei den „Ritualmord“-Legenden wurde den Juden unterstellt, sie raubten und töteten kleine Kinder zu religiösen Zwecken. Derartige Auffassungen fanden bis ins 20., aber auch noch bis ins 21. Jahrhundert hinein große Verbreitung. Dies gilt übrigens ebenfalls für den arabischen Raum, wo Hetze gegen Israel mit solchen Versatzstücken versehen wird. Und auch Erdogan meinte jüngst als türkischer Präsident, die Israelis töteten Kinder und seien erst zufrieden, wenn sie ihnen Blut aussaugen.
Berechtigt schätzte dies die US-Regierung als antisemitisch ein.
Eigentlich dominieren aber bei heutigen antisemitischen Konspirationsvorstellungen andere judenfeindliche Varianten. Dazu gehören die Auffassungen, dass Juden die Politik und die Wirtschaft kontrollieren würden. Früher machte man die Familie Rothschild für so etwas verantwortlich, heute soll George Soros hier verschwörerisch wirken. Die formale Argumentationsweise ist dabei identisch, was eben für ideengeschichtliche Kontinuitäten spricht. Auch hier besteht ein wahrer Kern: Es gab und gibt jüdische Bankiers, ja sogar besonders wohlhabende jüdische Bankiers. Gleichwohl sind mit Ausnahme von Israel in allen Ländern jene in der Mehrheit, die keine jüdischen Bankiers sind. Derart schlichte Fakten haben aber nur selten zur Korrektur von solchen Verschwörungsvorstellungen geführt. Dies hängt auch damit zusammen, dass man es eher mit einem Glaubenssystem zu tun hat. Daher nutze ich für solche Ausprägungen auch den Begriff des „Verschwörungsmythos“.
Insbesondere die Geschichte der „Protokolle der Weisen von Zion“ macht diesen Zusammenhang deutlich. Es handelt sich dabei um eine Fälschung, welche die Existenz einer „jüdischen Weltverschwörung“ nahelegen soll. Seit Anfang der 1920er Jahre ist bekannt, dass die angeblichen Aufzeichnungen aus einer jüdischen „Geheimversammlung“ aus einer älteren französischen Schrift mit gewissen Veränderungen übernommen wurden. Man braucht nur die Auszüge aus beiden Texten nebeneinander zu halten, dann zeigt sich wie hier der Fälscher ein Plagiat begangen hatte. Auch wenn diese Einsicht über die „Protokolle“ mustergültig belegbar ist, kam es zu deren weltweiter Verbreitung trotz dieses Wissens. Ein Bestseller sind sie seit den 1950er Jahren auch in der arabischen Welt. Dort dienen die „Protokolle“ dazu, den ökonomischen und politischen Aufschwung des Staates Israel zu erklären. So kann von den Fehlern der eigenen Politik eben mit Verschwörungsvorstellungen abgelenkt werden.
Sind Konspirationsvorstellungen immer judenfeindlich geprägt?
Auch wenn der Antisemitismus meist auch von Konspirationsdenken geprägt ist, heißt das im Umkehrschluss aber nicht, dass der Antisemitismus alle Verschwörungsideologien prägt. Dafür existieren so viele Auffassungen in diesem Sinne, die nicht notwendigerweise immer die Juden als konspirative Mächte sehen. Es gibt ja die absonderlichsten Auffassungen, die selbst die in früheren Jahrhunderten kursierenden Verschwörungsvorstellungen nicht prägten. Wenn etwa Außerirdische oder Reptilien als konspirative Wesenheiten unterstellt werden, dann findet man dafür allenfalls noch im dunklen Mittelalter gewisse Vorbilder. Seinerzeit kam dem Glauben an den Satan hier ein hoher Stellenwert zu. Angebliche konspirative Akteure galten als dessen Marionetten. Wenn derartige Auffassungen heute noch lange nach der Aufklärung größere Verbreitung finden, dann hat die Ideologiekritik des Kritischen Rationalismus wie der kritischen Prüfung weiterhin viel zu tun.
Prof. Dr. phil. Armin Pfahl-Traughber, Politikwissenschaftler und Soziologe, ist hauptamtlich Lehrender an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl und gibt ebendort das „Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung“ heraus. Er hat zahlreiche Aufsätze und Bücher eben zum politischen Extremismus veröffentlicht. Seine Dissertation schrieb er indessen zu folgendem Thema: „Der antisemitismus-antifreimaurerische Verschwörungsmythos in der Weimarer Republik und im NS-Staat“ (Buchausgabe: Wien 1994). Der Aufsatz „‘Bausteine‘ zu einer Theorie über ‚Verschwörungstheorien‘“ (in: Helmut Reinalter [Hrsg.]. Verschwörungstheorien, Innsbruck 2002) regte mit den Ausführungen zu Begriffsbestimmungen und Funktionen auch die spätere Forschung zu Verschwörungsideologien an. Er stellte insbesondere darauf auf, dass die Anhänger dieses Denkens darin auch einen subjektiven Nutzen sehen.