PROF. DR. ARMIN PFAHL-TRAUGHBER • 17.03.2021

Die antiaufklärerische Dimension linker Identitätspolitik

Immer wieder ist von einer “Identitätslinken” die Rede. Doch was ist damit genau hinsichtlich bestimmter Auffassungen gemeint und welche Positionen werden dort vertreten? Und wie steht es um deren Einstellung zu individualistischen und universalistischen Prinzipien? Antworten auf diese Fragen formuliert der Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber in zehn Thesen.

Die Iden­ti­täts­lin­ke enga­giert sich für Min­der­hei­ten und deren Rech­te. Dies ist für sich eigent­lich ein ehren­wer­tes Anlie­gen, sofern damit nicht auch pro­ble­ma­ti­sche Impli­ka­tio­nen ein­her­gin­gen. Ins­be­son­de­re die anti­auf­klä­re­ri­sche Dimen­si­on und ein neu­er Men­schen­rechts­re­la­ti­vis­mus ver­die­nen Wider­spruch. Daher soll hier in ideo­lo­gie­kri­ti­scher Absicht ein Blick auf kon­sti­tu­ti­ve Grund­po­si­tio­nen einer Iden­ti­täts­lin­ken gewor­fen wer­den. Um aber kei­ne Fehl­deu­tun­gen auf­kom­men zu las­sen, sei bereits am Beginn der Erör­te­rung klar­ge­stellt: Es geht nicht um die Dele­gi­ti­mie­rung eines Enga­ge­ments für Min­der­hei­ten, son­dern um die Kri­tik von damit ein­her­ge­hen­den Posi­tio­nen. Die Beja­hung von all­ge­mei­nen Men­schen­rech­ten gilt hier­bei als kon­sti­tu­ti­ve Norm. Wenn die­se aber ange­sichts von Gege­ben­hei­ten in der Mehr­heits­kul­tur ein­ge­for­dert und ange­sichts von Gege­ben­hei­ten in einer Min­der­heits­kul­tur igno­riert wer­den, dann ist nicht nur von beschränk­ter Glaub­wür­dig­keit, son­dern von grund­le­gen­der Wider­sprüch­lich­keit auszugehen.

Bevor die­se Aus­gangs­po­si­ti­on eine nähe­re Begrün­dung erfah­ren soll, ist eine Defi­ni­ti­on von „Iden­ti­täts­lin­ke“ not­wen­dig. Denn es han­delt sich um eine Bezeich­nung, die nicht auf einen kon­kre­ten poli­ti­schen Akteur gemünzt ist. Eine fes­te Grup­pie­rung mit ein­schlä­gi­ger Pro­gram­ma­tik exis­tiert nicht. Die Bezeich­nung steht inso­fern mehr für ein Kon­strukt, das abs­trakt von einer Sozi­allin­ken abge­grenzt wer­den kann. Eine Gemein­sam­keit als Lin­ke müss­te eigent­lich dar­in bestehen, dass dem Ega­li­täts­stre­ben ein grund­le­gen­der Stel­len­wert zuge­schrie­ben wird. Indes­sen stellt sich die berech­tig­te Fra­ge, ob Gleich­heit für die gemein­te Iden­ti­täts­lin­ke über­haupt zum kon­sti­tu­ti­ven Selbst­ver­ständ­nis gehört. Dies ist bei der hier als Kon­trast gese­he­nen Sozi­allin­ken sehr wohl so, möch­te sie doch für die gan­ze Gesell­schaft mehr sozia­le Gleich­heit umge­setzt sehen. Dem­ge­gen­über rich­tet sich der Blick der gemein­ten Iden­ti­täts­lin­ken auf bestimm­te Min­der­hei­ten, sol­len sie doch eine höhe­re Aner­ken­nung in einer als dis­kri­mi­nie­rend gel­ten­den Mehr­heits­ge­sell­schaft erfahren.

Mit Berech­ti­gung wird gegen­über die­ser Dif­fe­ren­zie­rung ein­ge­wandt, dass es kei­nen Gegen­satz zwi­schen den Posi­tio­nen geben müs­se. Die­ser Auf­fas­sung lässt sich auch grund­le­gend zustim­men, denn die For­de­rung nach sozia­ler Gerech­tig­keit und nach mehr Min­der­hei­ten­rech­ten ste­hen in kei­nem Wider­spruch zuein­an­der. Es kann sogar die Auf­fas­sung von einem Ein­klang pos­tu­liert wer­den, beför­dert doch die eine For­de­rung mit­un­ter die ande­re For­de­rung. In der Lin­ken ver­hält es sich aber in der Pra­xis anders. Dies ver­an­schau­licht sowohl der Bezug auf die jewei­li­ge Grup­pe wie die kon­kre­te Ori­en­tie­rung an Poli­tik­fel­dern. In dem einen Fall ist es die sozia­le Fra­ge und die Mehr­heits­ge­sell­schaft, in dem ande­ren Fall ist es die Iden­ti­tät von bestimm­ten Min­der­hei­ten. Die damit ein­her­ge­hen­de Dif­fe­ren­zie­rung im jewei­li­gen Enga­ge­ment lässt auch eine auf die Iden­ti­täts­lin­ke und Sozi­allin­ke bezo­ge­ne Unter­schei­dung als sinn­voll erschei­nen. Gleich­wohl han­delt es sich in bei­den Fäl­len um Kon­struk­te, womit Ide­al­vor­stel­lun­gen zur Unter­schei­dung dienen.

Fort­an soll es nur noch um die Iden­ti­täts­lin­ke gehen, wobei zunächst deren Posi­tio­nen refe­riert wer­den. Hier­bei besteht das bereits erwähn­te Pro­blem: Da kei­ne fes­te Orga­ni­sa­ti­on mit ent­wi­ckel­ter Pro­gram­ma­tik exis­tiert, kön­nen ver­all­ge­mei­ner­ba­re Aus­sa­gen zu deren inhalt­li­chen Posi­tio­nen nicht so ein­fach gemacht wer­den. Ein Aspekt dürf­te aber schon durch die bis­he­ri­gen Aus­füh­run­gen klar sein. Es geht nicht um das blo­ße Enga­ge­ment für Min­der­hei­ten und deren Rech­te. Dar­über hin­aus gibt es beson­de­re Allein­stel­lungs­merk­ma­le einer Iden­ti­täts­lin­ken, die ins­be­son­de­re auf diver­se Kol­lek­tiv­bil­dun­gen im eige­nen Selbst­ver­ständ­nis ver­wei­sen. Hier­bei kommt indi­vi­du­el­lem Agie­ren nur eine gerin­ge Bedeu­tung zu, ent­schei­dend ist dem­ge­gen­über die Grup­pen­zu­ge­hö­rig­keit mit den jewei­li­gen Nor­men. Zuge­spitzt bedeu­tet dies, dass eine angeb­lich domi­nan­te Mehr­heits­kul­tur objek­tiv dis­kri­mi­niert, wäh­rend dem­ge­gen­über eine davon betrof­fe­ne Min­der­hei­ten­kul­tur um ihrer selbst wil­len ver­tei­digt wer­den soll.

Die damit ange­spro­che­nen Beson­der­hei­ten der Iden­ti­täts­lin­ken erge­ben sich aus der fol­gen­den Kri­tik: Es wür­de eine struk­tu­rel­le Benach­tei­li­gung von Min­der­hei­ten­an­ge­hö­ri­gen geben, wobei kon­kre­te Hand­lun­gen von Indi­vi­du­en aus der Mehr­heits­ge­sell­schaft gar nicht vor­ge­nom­men wer­den müs­sen. So bestehe eine Benach­tei­li­gung von Schwar­zen, die sich durch die Domi­nanz von Wei­ßen bedingt sei. Dazu feh­le es indes­sen an Auf­merk­sam­keit, wür­den doch sol­che Dis­kri­mi­nie­rungs­for­men ver­drängt. Das Bewusst­sein von einer „kri­ti­schen Weiß­heit“ sei not­wen­dig. Es käme auch zu „kul­tu­rel­len Aneig­nun­gen“, wobei Ange­hö­ri­ge der Mehr­heits­kul­tur aus der Min­der­heits­kul­tur bestimm­te Spe­zi­fi­ka über­neh­men wür­den. So könn­ten Dre­ad­locks als Fri­sur bei Wei­ßen als „ras­sis­tisch“ gel­ten. Und dann dürf­ten Iden­ti­täts­merk­ma­le aus einer Min­der­hei­ten­kul­tur nicht hin­ter­fragt wer­den, wür­de dabei doch ein dis­kri­mi­nie­ren­der, weil über­le­ge­ner Stand­punkt ein­ge­nom­men. Auch Ein­wän­de gegen das Kopf­tuch bei Mus­li­min­nen gel­ten dann als verwerflich.

Gegen der­ar­ti­ge Auf­fas­sun­gen und deren Kon­se­quen­zen sol­len nun Posi­tio­nen for­mu­liert wer­den, wobei die Ideo­lo­gie­kri­tik als Metho­de und die Men­schen­rech­te als Wer­te­fun­da­ment die­nen. Den kri­ti­sier­ten Bekun­dun­gen kön­nen huma­nis­ti­sche Prä­gun­gen zugrun­de lie­gen, fin­den sich doch meist noble Absich­ten bei dem ein­ge­for­der­ten Min­der­hei­ten­schutz. Auch macht man mit­un­ter auf Dis­kri­mi­nie­rungs­for­men auf­merk­sam, wel­che im öffent­li­chen Bewusst­sein noch nicht brei­ter wahr­ge­nom­men wer­den. Die fol­gen­den Ein­wän­de gel­ten nicht die­sen Grund­po­si­tio­nen, sie machen aber kri­tisch auf Begrün­dungs­for­men und Kon­se­quen­zen auf­merk­sam. Es wird dar­über hin­aus die Auf­fas­sung ver­tre­ten, dass anti­auf­klä­re­ri­sche Dimen­sio­nen zu erken­nen sind. Und dann kön­nen auch bestimm­te Annah­men der Iden­ti­täts­lin­ken als pro­ble­ma­tisch gel­ten, wenn deren for­ma­len Inhal­te in einem ver­all­ge­mei­ner­ten Sin­ne wei­ter gedacht wer­den. Dabei offen­ba­ren sich Gemein­sam­kei­ten von Iden­ti­täts­lin­ker und Iden­ti­täts­rech­ter in einem struk­tu­rel­len Sinne.

Nach die­sen ein­lei­ten­den Erläu­te­run­gen, die Fehl­deu­tun­gen des Gemein­ten ver­mei­den soll­ten, geht es nun um die unter­schied­li­chen Kri­tik­punk­te: Ers­tens kann man die Aus­rich­tung an einem anti­in­di­vi­dua­lis­ti­schen Kol­lek­ti­vis­mus fest­stel­len. Die Ein­zel­nen wer­den pri­mär als Grup­pen­an­ge­hö­ri­ge wahr­ge­nom­men, was sie auch sind, aber eben in einem viel­fäl­ti­gen Sin­ne. Die Iden­ti­täts­lin­ke blickt auf die Mehr­heits­ge­sell­schaft und die Min­der­heits­kul­tu­ren, die Auto­no­mie des Indi­vi­du­ums hat dem­ge­gen­über gerin­ge­re Wer­tig­keit. Die­se Denk­per­spek­ti­ve erklärt dann auch Pau­scha­li­sie­run­gen, etwa die, wonach Ras­sis­mus kein The­ma für Wei­ße sei. Der­ar­ti­ge Auf­fas­sun­gen machen berech­tigt dar­auf auf­merk­sam, dass ein Bewusst­seins­wan­del hin­sicht­lich der Dis­kri­mi­nie­rungs­wahr­neh­mung not­wen­dig ist. Indes­sen bestehen dazu unter­schied­li­che Ein­stel­lun­gen in der Mehr­heits­kul­tur, jeweils bedingt durch indi­vi­du­el­le Refle­xi­ons­pro­zes­se. Umge­kehrt tei­len nicht alle Ange­hö­ri­gen von Min­der­hei­ten­kul­tu­ren die angeb­lich in ihnen kon­sti­tu­ti­ven Prin­zi­pi­en des kol­lek­ti­ven Selbstverständnisses.

Zwei­tens besteht ein damit ein­her­ge­hen­der Essen­tia­lis­mus in der Grup­pen­wahr­neh­mung. Dabei offen­bart sich ein Den­ken in Homo­ge­ni­täts­ka­te­go­rien, wer­den doch Mehr­heits­ge­sell­schaft und Min­der­heits­kul­tu­ren im dua­lis­ti­schen Sin­ne ein­heit­lich wahr­ge­nom­men. Die Ange­hö­ri­gen der Erst­ge­nann­ten gel­ten als dis­kri­mi­nie­rend, die Ange­hö­ri­gen der Min­der­hei­ten­kul­tu­ren als dis­kri­mi­niert. Bei­des erscheint dann bezo­gen auf die Grup­pen jeweils als deren Wesen. Die­se Essenz­fi­xie­rung nimmt noch wei­te­re For­men an, was der auf „Kul­tu­rel­le Aneig­nung“ bezo­ge­ne Dis­kurs zeigt. Dort geht man davon aus, dass beson­de­re Eigen­schaf­ten wie etwa eine Fri­sur nur einer bestimm­ten Grup­pe zuge­schrie­ben wer­den könn­ten. Häu­fig sind der­ar­ti­ge Annah­men auch kul­tur­ge­schicht­lich unzu­tref­fend, viel bedenk­li­cher ist aber der damit ein­her­ge­hen­de Exklu­si­vi­täts­an­spruch. Auch bezo­gen auf den hier gemein­ten Essen­tia­lis­mus gibt es for­ma­le Gemein­sam­kei­ten mit der Iden­ti­täts­rech­ten, wobei dort dann die Inhal­te als Vor­zei­chen ande­re sind.

“Der gemein­te iden­ti­täts­be­zo­ge­ne Anti­ras­sis­mus pos­tu­liert nicht, dass Haut­far­be kei­ne Rol­le mehr spie­len sol­le. Ganz im Gegen­teil, erfol­gen dar­über doch Ein­tei­lun­gen in dis­kri­mi­nier­te und domi­nan­te Gruppen.”

Drit­tens geht mit der­ar­ti­gen Auf­fas­sun­gen ein Bedeu­tungs­an­stieg eth­ni­scher Zuge­hö­rig­keit ein­her. Der gemein­te iden­ti­täts­be­zo­ge­ne Anti­ras­sis­mus pos­tu­liert nicht, dass Haut­far­be kei­ne Rol­le mehr spie­len sol­le. Ganz im Gegen­teil, erfol­gen dar­über doch Ein­tei­lun­gen in dis­kri­mi­nier­te und domi­nan­te Grup­pen. Gegen kri­ti­sche Anmer­kun­gen dazu wen­den Iden­ti­täts­lin­ke häu­fig ein, es gehe nicht um bio­lo­gi­sche, son­dern um sozia­le Kate­go­rien. Gleich­wohl erfolgt die Ein­tei­lung dann doch wie­der über die Haut­far­be. Auch der klas­si­sche ras­sis­ti­sche Dis­kurs nahm sozi­al beding­te Hier­ar­chi­sie­run­gen vor, wobei bio­lo­gi­sche Kate­go­rien nur eine schein­ba­re Legi­ti­ma­ti­on lie­fer­ten. Die­se auch von der Iden­ti­täts­lin­ken zutref­fend ver­tre­te­ne Posi­ti­on müss­te in dem genann­ten Punkt auch bei ihr zu selbst­kri­ti­scher Refle­xi­on füh­ren. Statt­des­sen kur­sie­ren dort Auf­fas­sun­gen, wonach etwa ein Schwar­zer einen Wei­ßen nicht ras­sis­tisch belei­di­gen kön­ne, denn die Betrof­fe­nen wür­den zu einer Domi­nanz­kul­tur gehö­ren. Dabei wären aber wie­der eth­ni­sche Kri­te­ri­en relevant.

Vier­tens lässt sich eine Renais­sance pau­scha­ler Zerr­bil­der kon­sta­tie­ren. Gemeint sind damit etwa Auf­fas­sun­gen zu kul­tu­rel­len Räu­men, die von Ein­sei­tig­kei­ten und Ste­reo­ty­pen mit nor­ma­ti­ven Ver­wer­fun­gen ver­bun­den sind. Dies kri­ti­sie­ren Iden­ti­täts­lin­ke durch­aus zutref­fend, wenn von der her­ab­wür­di­gen­den „Orientalismus“-Vorstellung gespro­chen wird. Damit wür­den Gesell­schaf­ten des Nahen Ostens all­ge­mein als „bedroh­lich“, „mys­te­ri­ös“ oder „rück­stän­dig“ wahr­ge­nom­men. Gegen­über einer sol­chen ein­sei­ti­gen Fehl­wahr­neh­mung pos­tu­lie­ren aber Iden­ti­täts­lin­ke ihren „Okzi­den­ta­lis­mus“, der das Bild von einem „impe­ria­lis­ti­schen“, „mate­ria­lis­ti­schen“ und „ras­sis­ti­schen“ Wes­ten ver­mit­telt. Bei­de Fehl­deu­tun­gen haben ihre wah­ren Ker­ne, stel­len gleich­wohl Zerr­bil­der dar. Die auf­klä­re­ri­schen Errun­gen­schaf­ten wer­den von der Iden­ti­täts­lin­ke hin­sicht­lich des Wes­tens igno­riert. Damit gera­ten auch die nor­ma­ti­ven Grund­la­gen, die gegen­über einem par­ti­ku­la­ren einen uni­ver­sel­len Anti­ras­sis­mus prä­gen, aus der Wahrnehmung.

Fünf­tens lässt sich ein Abschied von der inter­sub­jek­ti­ven Über­prüf­bar­keit wahr­neh­men. Als aus­rei­chen­der Beleg für die Dis­kri­mi­nie­rung von Min­der­hei­ten gilt, wenn die Betrof­fe­nen eine der­ar­ti­ge Emp­fin­dung haben. Der aner­ken­nens­wer­te Gesichts­punkt dabei ist, dass auch die Blick­rich­tung der Dis­kri­mi­nie­rungs­op­fer wich­tig ist. Gleich­wohl darf die­se Erwei­te­rung von Kennt­nis­sen nicht dazu füh­ren, dass es kei­ne nach­voll­zieh­ba­ren Maß­stä­be mehr für eine inhalt­li­che Zuord­nung geben kann. Eine sol­che Auf­fas­sung rich­tet sich gegen die For­de­rung, dass Bewer­tun­gen inter­sub­jek­tiv nach­voll­zieh­bar sein müs­sen. Indi­vi­du­el­le Emp­fin­dun­gen stellt man damit über wis­sen­schaft­li­che Grund­prin­zi­pi­en. Der­ar­ti­ge Auf­fas­sun­gen lau­fen dann über eine poli­ti­sche Instru­men­ta­li­sie­rung auf sub­jek­ti­ve Will­kür hin­aus. So gel­ten kri­ti­sche Ein­wän­de zum Islam als „Isla­mo­pho­bie“, ohne für die Bezeich­nung genaue Kri­te­ri­en vor­brin­gen zu kön­nen. Den Begriff nut­zen denn auch Fun­da­men­ta­lis­ten und Isla­mis­ten, um sich kri­ti­schen Prü­fun­gen durch Ras­sis­mus-Vor­wür­fe zu entziehen.

Sechs­tens lässt sich ein Kul­tur­re­la­ti­vis­mus mit anti­uni­ver­sel­lem Wer­te­fun­da­ment aus­ma­chen. Gemeint ist damit all­ge­mein eine Auf­fas­sung, wonach die Eigen­schaf­ten einer Kul­tur nicht zu Wer­tun­gen füh­ren soll­ten. Das Anle­gen eines exter­nen Maß­stabs gilt als nor­ma­ti­ver Über­le­gen­heits­an­spruch. Mit­un­ter wird dar­in gar eine geis­ti­ge Fort­set­zung des his­to­ri­schen Kolo­nia­lis­mus gese­hen. In die­ser Denk­per­spek­ti­ve gibt es in den jewei­li­gen Kul­tu­ren gewach­se­ne Nor­men, die um ihrer selbst wil­len eine Wert­schät­zung genie­ßen soll­ten. Die­se Auf­fas­sung ver­tritt die Iden­ti­täts­lin­ke indes­sen nur gegen­über Kul­tu­ren, die Ange­hö­ri­ge von dis­kri­mi­nier­ten Min­der­hei­ten geprägt haben sol­len. Für deren ein­schlä­gi­ge Beson­der­hei­ten müs­se sozia­les Ver­ständ­nis auf­ge­bracht wer­den, hin­ter Ein­wän­den gegen die­se ste­he häu­fig ein „kul­tu­rel­ler Ras­sis­mus“. Die­se Grund­auf­fas­sung negiert not­wen­di­ger­wei­se uni­ver­sel­le Wer­te. Denn deren auf­klä­re­ri­sche Dimen­si­on bil­det die nor­ma­ti­ve Grund­la­ge, die auch Kri­tik an den in Kul­tu­ren prä­sen­ten Miss­stän­den und Ver­wer­fun­gen ermöglicht.

Sieb­tens erge­ben sich dar­aus als Kon­se­quen­zen men­schen­rechts­re­la­ti­vis­ti­sche Vor­stel­lun­gen. Gemeint ist damit kei­ne offe­ne Ableh­nung der Men­schen­rech­te, bekennt sich doch die Iden­ti­täts­lin­ke gera­de bei ihrem Min­der­hei­ten­en­ga­ge­ment zu ihnen. So sehr sie aber für deren Ange­hö­ri­ge gegen­über der Mehr­heits­ge­sell­schaft dann Men­schen­rech­te ein­for­dert, was als Enga­ge­ment begrü­ßens­wert ist, so sehr igno­riert sie Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen in die­sen Min­der­hei­ten­kul­tu­ren. Anti­se­mi­tis­mus, Frau­en­dis­kri­mi­nie­rung oder Homo­se­xu­el­len­hass etwa unter Mus­li­men wer­den nur sel­ten the­ma­ti­siert. Auch gilt dann die Bur­ka bei einer Frau auf­grund des erwähn­ten Kul­tur­re­la­ti­vis­mus als Selbst­be­stim­mungs­akt. Die Beru­fung auf die Men­schen­rech­te, die inner­halb der gemein­ten Kul­tu­ren einen kon­sti­tu­ti­ven Sta­tus haben soll­ten, deu­tet man als „Men­schen­rechts­im­pe­ria­lis­mus“. Es kur­siert auch die Auf­fas­sung, hier wür­de von einem „über­le­ge­nen Stand­punkt“ aus argu­men­tiert, was eben­falls auf men­schen­rechts­re­la­ti­vis­ti­sche Kon­se­quen­zen hinausläuft.

Ach­tens hät­te man es mit fol­gen­rei­chen Sepa­rie­rungs­ten­den­zen in der gesell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit zu tun. Dies hängt ins­be­son­de­re mit der Annah­me zusam­men, dass die beson­de­re Iden­ti­tät der Min­der­hei­ten­grup­pen von die­sen unbe­hin­dert gepflegt wer­den soll. Dabei geht es für deren Ange­hö­ri­ge nicht um „geschütz­te Räu­me“ für die Pra­xis eige­ner Wert­vor­stel­lun­gen. Der­ar­ti­ges steht für die Frei­heit des Indi­vi­du­ums und von Kol­lek­ti­ven, wor­aus für sich allein kei­ne gesell­schaft­li­chen Pro­ble­me ent­ste­hen müs­sen. Anders ver­hält es sich bei Bestand­tei­len kul­tu­rel­ler Iden­ti­tät, die mit der nor­ma­ti­ven Basis einer offe­nen Gesell­schaft im Kon­flikt ste­hen. Der Fun­da­men­ta­lis­mus und Isla­mis­mus unter Mus­li­men ste­hen dafür. Bei­de Bestre­bun­gen müs­sen nicht mit Gewalt­ta­ten und Ter­ro­ris­mus ver­bun­den sein. Den lega­lis­ti­schen Akteu­ren geht es mehr um einen poli­ti­schen Ein­fluss­ge­winn, der Ideo­lo­gi­sie­rung über Sepa­rie­rung betrei­ben will. Die Iden­ti­täts­lin­ke beför­dert zumin­dest indi­rekt und unbe­wusst durch ihren Wer­tere­la­ti­vis­mus sol­che Wirkungen.

Neun­tes lässt sich immer wie­der eine Ver­zer­rung der his­to­ri­schen Wirk­lich­keit aus­ma­chen. Dies sei am Bei­spiel der Skla­ve­rei im Wes­ten ver­deut­licht: Es gehört zu Dop­pel­mo­ral und Heu­che­lei, wenn die fun­da­men­ta­le Gleich­wer­tig­keit von Men­schen als kon­sti­tu­ti­ves Prin­zip des Selbst­ver­ständ­nis­ses beschwo­ren wird und gleich­zei­tig im gesell­schaft­li­chen Leben dann Men­schen in der Skla­ve­rei als ver­han­del­ba­re Ware gel­ten. Genau die­se Gege­ben­heit präg­te dau­er­haft und wirk­sam die frü­he Geschich­te der USA, ein bedeu­ten­der Teil des Wes­tens. Die Empö­rung dar­über ist ange­sichts der Fern­wir­kun­gen auch heu­te noch wich­tig. Gleich­wohl darf die Ein­sicht in die­se his­to­ri­schen Fak­ten nicht ver­ges­sen machen, dass das Aus­maß und die Dau­er der Skla­ve­rei in der afri­ka­ni­schen und ara­bi­schen Welt bedeu­tend höher waren. In Frank­reich ende­te sie 1794, in Groß­bri­tan­ni­en 1807, dem­ge­gen­über im Iran 1928 und in Sau­di Ara­bi­en 1962. Doch die Iden­ti­täts­lin­ke blickt häu­fig nur auf die Skla­ve­rei im Wes­ten, wäh­rend die Erin­ne­rung an die­se Schan­de woan­ders meist ein Tabu ist.

Und zehn­tens kann man immer wie­der die Nut­zung poli­ti­scher Unter­stel­lun­gen kon­sta­tie­ren. Damit ver­wei­gern sich vie­le Iden­ti­täts­lin­ke einer kri­ti­schen Prü­fung, wenn Anders­den­ken­den ohne Beleg etwa Ras­sis­mus vor­ge­wor­fen wird. Dabei ist die Fest­stel­lung zutref­fend, dass auch berech­tig­te Ein­wän­de etwa von Mus­li­men­fein­den, dann aber um einer Pau­scha­li­sie­rung wil­len vor­ge­tra­gen wer­den. Dies gilt etwa hin­sicht­lich der Frau­en­dis­kri­mi­nie­rung in mus­li­mi­schen Kon­tex­ten, wobei man Ein­wän­de dage­gen zur Ver­brei­tung von pau­scha­len Vor­ur­tei­len instru­men­ta­li­siert. Indes­sen han­delt es sich um beleg­ba­re Gege­ben­hei­ten, die aus frau­en­recht­li­cher Blick­rich­tung eben Kri­tik not­wen­dig machen. Dies­be­züg­lich gilt es zwi­schen einer auf­klä­re­risch-men­schen­recht­li­chen Islam­kri­tik und frem­den­feind­lich-het­ze­ri­schen Mus­li­men­feind­lich­keit zu unter­schei­den. Genau dies geschieht bei der Iden­ti­täts­lin­ken indes­sen nicht, wer­den bei­de Posi­tio­nen doch häu­fig gleich­ge­setzt. Dabei ist eben­falls ein aus­ge­präg­ter Men­schen­rechts­re­la­ti­vis­mus erkennbar.

Abschlie­ßend soll noch ein­mal ein bereits erwähn­ter Gesichts­punkt her­vor­ge­ho­ben wer­den: Es geht bei der for­mu­lier­ten Ideo­lo­gie­kri­tik an den iden­ti­täts­lin­ken Posi­tio­nen nicht dar­um, die sozia­le Exis­tenz von grup­pen­be­zo­ge­ner Men­schen­feind­lich­keit zu leug­nen oder zu rela­ti­vie­ren. Genau die­se Behaup­tung fin­det sich immer wie­der im Dis­kurs, um eine Immu­ni­sie­rung vor der vor­ge­tra­ge­nen Kri­tik vor­zu­neh­men. Ein iden­ti­täts­be­zo­ge­ner Anti­ras­sis­mus wird hier viel­mehr mit einem uni­ver­sa­lis­ti­schen Anti­ras­sis­mus einer kri­ti­schen Prü­fung unter­zo­gen. Dabei offen­ba­ren sich auch for­ma­le Gemein­sam­kei­ten mit der Iden­ti­täts­rech­ten, was bis­lang in der Iden­ti­täts­lin­ken kaum zu einer selbst­kri­ti­schen Refle­xi­on führ­te. Die­se Auf­fas­sung bestrei­tet nicht die Unter­schie­de. Denn die Iden­ti­täts­lin­ke will bestimm­ten Min­der­hei­ten mehr Rech­te zuge­ste­hen, die Iden­ti­täts­rech­te über einen Natio­na­lis­mus gesell­schaft­li­che Pri­vi­le­gi­en ver­tei­di­gen. Gemein­sam ist ihnen indes­sen die anti­auf­klä­re­ri­sche Dimen­si­on von Homo­ge­ni­täts­den­ken und Menschenrechtsrelativismus.

Prof. Dr. Dipl.-Pol., Dipl.-Soz. Armin Pfahl-Trau­gh­ber ist haupt­amt­lich Leh­ren­der an der Fach­hoch­schu­le des Bun­des für öffent­li­che Ver­wal­tung in Brühl, Lehr­be­auf­trag­ter an der Uni­ver­si­tät Bonn und Her­aus­ge­ber des “Jahr­buchs für Extre­mis­mus- und Ter­ro­ris­mus­for­schung”. Sei­ne Arbeits­schwer­punk­te sind Anti­se­mi­tis­mus, Extre­mis­mus, Ideen­ge­schich­te, Reli­gi­on, Ter­ro­ris­mus und Tota­li­ta­ris­mus. Er ist Mit­glied im Unab­hän­gi­gen Arbeits­kreis Anti­se­mi­tis­mus des Deut­schen Bun­des­ta­ges, im Bei­rat des Bünd­nis­ses für Demo­kra­tie und Tole­ranz sowie Bei­rats­mit­glied des Hans-Albert-Instituts.