Hans-Albert-Institut

Leidenschaft
zur Vernunft

Kritischer Rationalismus als Lebenshaltung

Leidenschaft
zur Vernunft

Kritischer Rationalismus als Lebenshaltung

Der fol­gen­de Text liegt als Bro­schü­re vor, die als PDF-Doku­ment her­un­ter­ge­la­den und beim Sekre­ta­ri­at der Giord­a­no-Bru­no-Stif­tung als Print-Ver­si­on bestellt wer­den kann.

»Nur Anschauungen, die kritischen Argumenten ausgesetzt werden,
können sich bewähren.«

HANS ALBERT

Warum wir uns für
Rationalität einsetzen

Wäh­rend die kri­tisch-ratio­na­le Denk­wei­se für vie­le Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­ler zur All­tags­pra­xis gehört, wird sie im poli­ti­schen Tages­ge­schäft oft sträf­lich ver­nach­läs­sigt. Dies liegt nicht nur dar­an, dass Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker unter erheb­li­chem Zeit­druck ste­hen und es für sie kaum mög­lich ist, kom­ple­xe The­men in ihrer Tie­fe zu durch­drin­gen. Es liegt auch an den ver­schie­de­nen Wäh­run­gen, die in Wis­sen­schaft und Poli­tik eine Rol­le spie­len: Im Wis­sen­schafts­sys­tem geht es haupt­säch­lich um Erwerb und Erhalt von Wis­sen, in der Poli­tik dage­gen um Erwerb und Erhalt von Macht. So wer­den wis­sen­schaft­li­che Stan­dards oft­mals zuguns­ten von Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen geopfert.

Mit eini­gen Anstren­gun­gen ist eine kri­tisch-ratio­na­le Poli­tik jedoch sehr wohl mög­lich. Dafür ist es aller­dings erfor­der­lich, dass poli­ti­sche Ent­schei­dungs­pro­zes­se als Pro­blem­lö­sungs­ver­su­che ange­se­hen wer­den, die sich bewäh­ren, aber auch schei­tern kön­nen. Eine sol­che Poli­tik könn­te dem Pro­jekt der Auf­klä­rung zu neu­er Blü­te verhelfen.

Anläss­lich des 99. Geburts­tags des Phi­lo­so­phen Hans Albert ent­stand im Umfeld der Giord­a­no-Bru­no-Stif­tung die Idee, ein »Insti­tut zur För­de­rung des kri­tisch-ratio­na­len Den­kens in Poli­tik, Wirt­schaft und Gesell­schaft« zu grün­den. Das Hans-Albert-Insti­tut (HAI) soll kom­ple­xe gesell­schaft­li­che Pro­ble­me auf Basis der Men­schen­rech­te, aber mög­lichst unbe­ein­flusst von poli­ti­schen Ideo­lo­gien, welt­an­schau­li­chen Vor­ur­tei­len oder lob­by­is­ti­schen Inter­es­sen beleuch­ten. Dazu ver­öf­fent­licht es unter ande­rem Stand­punkt­pa­pie­re und über­sicht­li­che Fact-Sheets zu aus­ge­wähl­ten The­men, wel­che durch aner­kann­te Exper­ten erar­bei­tet wer­den. Der aktu­el­le Stand der For­schung sowie dar­auf basie­ren­de Hand­lungs­emp­feh­lun­gen für Poli­tik und Gesell­schaft sol­len dabei mög­lichst all­ge­mein­ver­ständ­lich und pra­xis­nah prä­sen­tiert werden.

Gera­de in der heu­ti­gen, von Mora­li­sie­rung und iden­ti­tä­rem Lager­den­ken gepräg­ten Debat­te ist eine kri­tisch-ratio­na­le Her­an­ge­hens­wei­se erfor­der­lich. Denn es gilt mehr denn je, hei­ße Eisen mit küh­lem Ver­stand anzu­pa­cken, was ver­langt, dass man weder in die Fal­le des Dog­ma­tis­mus noch in die Fal­le des post­mo­der­nen Belie­big­keits­den­kens läuft. Hans Albert hat gezeigt, wie man die­se Sack­gas­sen ver­mei­det. Es liegt nun an uns, die­se Tech­ni­ken auf die rele­van­ten Pro­ble­me unse­rer Zeit anzu­wen­den, etwa auf Fra­gen des Umwelt­schut­zes, der Res­sour­cen­ver­tei­lung, der Bio­ethik oder der Chan­cen und Risi­ken der Künst­li­chen Intelligenz.

Rationalität in der Krise

Die Ratio­na­li­tät, so mag es man­chen schon durch den Kopf gegan­gen sein, hat heut­zu­ta­ge einen schwe­ren Stand. Falsch­mel­dun­gen und Ver­schwö­rungs­theo­rien ver­brei­ten sich aller­orts, und selbst rang­ho­he Poli­ti­ker legen sich ihre ganz per­sön­li­chen »alter­na­ti­ven Fak­ten« zurecht. Die wei­te Welt des Inter­nets stellt uns vor die Schwie­rig­keit, aus einer unüber­schau­ba­ren Men­ge von Mei­nun­gen ver­läss­li­che Infor­ma­tio­nen zu fil­tern. Wer soll da noch den Durch­blick behal­ten? Vie­le Men­schen ver­lie­ren nicht nur das Ver­trau­en in Medi­en und Poli­tik, son­dern stel­len grund­sätz­lich die Mög­lich­keit von Wahr­heit, wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis und Objek­ti­vi­tät in Fra­ge. Doch in einer Zeit, in der wir glo­ba­len Her­aus­for­de­run­gen wie der Coro­na-Pan­de­mie, der öko­lo­gi­schen Kri­se und der Ent­wick­lung künst­li­cher Intel­li­genz gegen­über­ste­hen, ist ein ver­nunft­ge­lei­te­ter Dis­kurs nöti­ger denn je. 

Wir soll­ten uns daher heu­te ver­stärkt Gedan­ken dar­über machen, was ratio­na­les Den­ken und Han­deln kenn­zeich­net und wie wir es beför­dern kön­nen. Da Ratio­na­li­tät ein infla­tio­när genutz­ter Begriff ist, kann es manch­mal schwer sein, ein kla­res Bild davon zu haben, was eigent­lich dar­un­ter zu ver­ste­hen ist. In einem all­ge­mei­nen Sinn meint er letzt­lich nichts ande­res als die Kunst des rich­ti­gen Den­kens – also einer Form des Nach­den­kens über die Welt, bei der wir aus unse­rem Wis­sen und unse­ren Erfah­run­gen ange­mes­se­ne, das heißt logisch feh­ler­freie Schlüs­se ziehen.

Kaum jemand wird ernst­haft bestrei­ten, dass Ratio­na­li­tät wich­tig ist. Wir bean­spru­chen für uns selbst, meist ratio­nal zu sein. Öfter als uns lieb ist, ent­schei­den wir jedoch ein­fach aus dem Bauch her­aus. Spä­tes­tens wenn eini­ges auf dem Spiel steht, soll­ten wir aber unse­ren Kopf ein­schal­ten. Wir alle tra­gen Ver­ant­wor­tung für unse­re Ent­schei­dun­gen, der wir nur gerecht wer­den kön­nen, wenn wir uns dabei von Fak­ten und Logik lei­ten las­sen, nicht von »gefühl­ten Wahr­hei­ten«. Wie aber kann Ratio­na­li­tät dabei hel­fen, ins­be­son­de­re die kom­ple­xen Her­aus­for­de­run­gen unse­rer Gegen­wart zu meis­tern? Wodurch zeich­net sich eine ratio­na­le Ein­stel­lung zur Welt eigent­lich aus? Und war­um fällt es uns so schwer, immer ratio­nal zu sein?

Homo Sapiens –
Das vernunftbegabte Tier

Die meis­te Zeit ver­ste­hen wir uns selbst als ver­nünf­tig. Wir set­zen im All­tag auch Ver­trau­en in die Ver­nunft der ande­ren, bei­spiels­wei­se, wenn wir im Stra­ßen­ver­kehr unter­wegs sind. Doch dort und in ande­ren Lebens­la­gen mer­ken wir eben­so, wie unver­nünf­tig sich Men­schen oft ver­hal­ten. Wie ist das zu erklä­ren? Es ist hilf­reich, hier­zu einen Blick in die weit zurück­lie­gen­de Geschich­te unse­rer Spe­zi­es zu wer­fen: Unser Wahr­neh­men und Den­ken ist das Resul­tat eines Mil­lio­nen Jah­re andau­ern­den Evo­lu­ti­ons­pro­zes­ses, in dem es vor allem dar­um ging, Über­le­ben und Fort­pflan­zung zu sichern. Für unse­re Vor­fah­ren war es daher wich­tig, schnel­le Ent­schei­dun­gen zu tref­fen, die sie vor mög­li­chen Gefah­ren schütz­ten. Dafür mach­ten sie sich Denk­ab­kür­zun­gen, soge­nann­te Heu­ris­ti­ken zunut­ze, die sie intui­tiv in eine bestimm­te Rich­tung lenk­ten. Hät­ten sie bei jedem Rascheln im Gebüsch erst sorg­fäl­tig abge­wo­gen, ob es sich tat­säch­lich um ein Raub­tier han­delt oder nicht, wären sie wohl schnell in des­sen Magen gelan­det. Uns wür­de es heu­te gar nicht geben, wenn unse­re Vor­fah­ren nicht lie­ber zu oft als ein­mal zu wenig die Flucht ergrif­fen hätten.

Die kogni­ti­ven Struk­tu­ren, die sich im Lau­fe der Evo­lu­ti­on ent­wi­ckelt haben, wur­den an uns wei­ter­ver­erbt und garan­tie­ren kei­nes­wegs ein wahr­heits­ge­treu­es Abbild der Wirk­lich­keit. In der Regel kön­nen wir uns zwar auf sie ver­las­sen, aber wir sind stets auch anfäl­lig für Täu­schun­gen und Fehl­ein­schät­zun­gen über die Beschaf­fen­heit der Rea­li­tät. Glück­li­cher­wei­se hat die Mensch­heit mit der Wis­sen­schaft ein Instru­ment gefun­den, um die­se feh­ler­haf­ten Annah­men zu korrigieren.

Die Ent­wick­lung der Wis­sen­schaft schrei­tet ähn­lich vor­an wie die bio­lo­gi­sche Evo­lu­ti­on: Theo­rien, die zu fal­schen Vor­her­sa­gen füh­ren, ver­schwin­den, wäh­rend erfolg­rei­che Theo­rien bis auf Wei­te­res im Ren­nen blei­ben. Die­ses kri­tisch-ratio­na­le Ver­fah­ren hat der Mensch­heit zu gro­ßen Fort­schrit­ten ver­hol­fen: Wäh­rend unse­re Vor­fah­ren unter Ein­satz von Leib und Leben her­aus­fin­den muss­ten, ob zum Bei­spiel eine bestimm­te Pflan­ze gif­tig ist, kön­nen wir uns mit Bedacht an die Welt her­an­tas­ten und Theo­rien ster­ben las­sen – statt Menschen.

Die kul­tur­ge­schicht­li­che Ent­de­ckung der Ver­nunft führ­te in der Epo­che der Auf­klä­rung dazu, dass die ratio­na­le Sei­te des Men­schen über die Maßen glo­ri­fi­ziert und zum höchs­ten Ziel erho­ben wur­de. Nach Dar­win wis­sen wir jedoch, dass dies nur eine Sei­te der Medail­le ist. Ins­be­son­de­re neue Erkennt­nis­se der Natur­wis­sen­schaf­ten zei­gen, dass der Mensch in sei­nem Den­ken und Han­deln von zahl­rei­chen Fak­to­ren beein­flusst wird, die nicht not­wen­di­ger­wei­se ratio­nal sein müs­sen. Aller­dings kön­nen wir bes­se­re Ent­schei­dun­gen tref­fen und sind weni­ger anfäl­lig für Mani­pu­la­tio­nen, wenn wir uns bewusst machen, wann und wes­halb wir nicht immer ratio­nal sind und wel­chen kogni­ti­ven Ver­zer­run­gen wir unter­lie­gen. Um die­se soll es im nächs­ten Abschnitt gehen.

Fallstricke des Denkens

Das mensch­li­che Gehirn ist ange­passt an eine Welt, die mit der uns­ri­gen nur noch man­ches gemein hat. Auf die Kom­ple­xi­tät und den Infor­ma­ti­ons­über­fluss der moder­nen, glo­ba­li­sier­ten Welt sind wir evo­lu­ti­ons­bio­lo­gisch nicht vor­be­rei­tet. Da sich unse­re Vor­fah­ren nicht mit Lebens­pro­ble­men aus­ein­an­der­set­zen muss­ten, die tau­send Men­schen oder mehr betref­fen, kön­nen wir uns die­se Berei­che nur schwer vor­stel­len. Ratio­na­les Den­ken wird erschwert von einer Viel­zahl sol­cher kogni­ti­ver Ver­zer­run­gen (»Bia­ses«), die unse­re Welt­sicht sys­te­ma­tisch ver­fäl­schen. Sich mit die­sen Wahr­neh­mungs- und Denk­feh­lern zu beschäf­ti­gen, emp­fiehlt sich vor allem des­halb, weil wir die Ten­denz haben, uns in unse­rem Den­ken für voll­kom­men objek­tiv und unbe­ein­flusst zu hal­ten. Aber das ist schon gleich der ers­te Denk­feh­ler – der soge­nann­te Bias Blind Spot (»Ver­zer­rungs­blind­heit«)! 

Erkennt­nis­theo­re­tisch beson­ders rele­vant ist zum Bei­spiel der Bestä­ti­gungs­feh­ler: Daten, die unse­re bestehen­de Ein­stel­lung stüt­zen, bewer­ten wir höher als ent­ge­gen­ste­hen­de Infor­ma­tio­nen. Oft wischen wir letz­te­re nicht ein­fach nur leicht­fer­tig bei­sei­te, son­dern neh­men sie nicht ein­mal wahr. Kein Wun­der, denn die Kon­fron­ta­ti­on mit Infor­ma­tio­nen, die unse­ren Ansich­ten ent­ge­gen­ste­hen, akti­viert Schmerz­zen­tren im Gehirn. Da ist es aus psy­cho­lo­gi­scher Per­spek­ti­ve nur all­zu ver­ständ­lich, wenn wir zu Ver­drän­gung neigen. 

Aus erkennt­nis­theo­re­ti­scher Sicht ist die­ser Mecha­nis­mus hin­ge­gen fatal, weil wir somit womög­lich fal­sche Über­zeu­gun­gen dog­ma­tisch ver­fes­ti­gen. Das ist umso pro­ble­ma­ti­scher, da wir im all­täg­li­chen Pro­zess der Erkennt­nis­ge­win­nung noch wei­te­ren Bia­ses unter­lie­gen. Da wäre zum Bei­spiel der Ver­füg­bar­keits­feh­ler: Die Häu­fig­keit eines Ereig­nis­ses wird von uns nicht sta­tis­tisch, son­dern anhand von per­sön­li­chen Erfah­run­gen und anek­do­ti­schen Erzäh­lun­gen erfasst. Und gemäß dem Dun­ning-Kru­ger-Effekt über­schät­zen wir unse­re eige­ne Exper­ti­se maß­los, gera­de dann, wenn wir uns kaum mit dem ent­spre­chen­den The­ma aus­ein­an­der­ge­setzt haben. So behaup­ten 80 Pro­zent der befrag­ten Auto­fah­rer in einer Stu­die von sich, bes­se­re Fahr­fä­hig­kei­ten als der Durch­schnitt zu haben. Da kann doch irgend­et­was nicht stimmen …

Verantwortung zur Rationalität

Ange­sichts der Kom­ple­xi­tät und Dring­lich­keit der gegen­wär­ti­gen Her­aus­for­de­run­gen brau­chen wir ein mög­lichst genau­es Bild von den Pro­ble­men und Lösungs­op­tio­nen. Im Umgang mit Pan­de­mien oder der Kli­ma­kri­se ist es unab­ding­bar, ratio­nal vor­zu­ge­hen: Von der Klug­heit unse­rer Ent­schei­dun­gen hängt letzt­lich nicht weni­ger als die Zukunft des Lebens auf unse­rem Pla­ne­ten ab. Ratio­na­li­tät hat dem­nach nicht nur eine erkennt­nis­theo­re­ti­sche, son­dern auch eine ethi­sche Dimension. 

Doch unser Han­deln wird dadurch erschwert, dass wir in einer Zeit der Ungleich­zei­tig­keit leben: Wäh­rend die Ent­wick­lung der Tech­nik rasant vor­an­schrei­tet, ver­las­sen wir uns zu sehr auf gewohn­te Welt­an­schau­un­gen und Erklä­rungs­sys­te­me. Die nega­ti­ven Aus­wir­kun­gen einer Tech­no­lo­gie wer­den uns oft­mals erst dann bewusst, wenn sie schon flä­chen­de­ckend eta­bliert ist. Dadurch kann das Gefühl ent­ste­hen, dass die Tech­nik uns im Griff hat und nicht umgekehrt. 

Die­sen Trend gilt es umzu­keh­ren: Wir soll­ten ler­nen, »auf Vor­rat zu den­ken« und bereits jetzt die am Hori­zont auf­schei­nen­den Risi­ken von Bio­tech­no­lo­gien und Künst­li­cher Intel­li­genz in den Blick neh­men. Je mehr Zeit uns zur Ver­fü­gung steht, des­to genau­er kön­nen wir unse­re Lösungs­op­tio­nen prü­fen – und damit ver­ant­wor­tungs­be­wuss­ter entscheiden. 

Nicht nur als Ein­zel­ne, son­dern auch als Gesell­schaft soll­ten wir der Ratio­na­li­tät einen höhe­ren Stel­len­wert ein­räu­men, als es bis­lang getan wur­de. Denn je höher der tech­no­lo­gi­sche Ent­wick­lungs­stand einer Kul­tur ist, des­to grö­ßer ist auch ihr Selbst­zer­stö­rungs­po­ten­zi­al. Aus die­sem Grund müs­sen wir heu­te mehr denn je dafür Sor­ge tra­gen, dass die ratio­na­len Prin­zi­pi­en, die wir in der Tech­no­lo­gie ganz selbst­ver­ständ­lich akzep­tie­ren, auch im welt­an­schau­lich-poli­ti­schen Bereich berück­sich­tigt wer­den. Um dies zu gewähr­leis­ten, braucht es ein zukunfts­fä­hi­ges Bil­dungs­sys­tem, in dem nicht nur der aktu­el­le Stand wis­sen­schaft­li­cher For­schung ver­mit­telt, son­dern auch die Grund­la­gen der Ratio­na­li­tät von der Pike auf erlernt werden.

Wir irren uns empor

Lan­ge Zeit befan­den sich Wis­sen­schaft und Phi­lo­so­phie auf der Suche nach unanzwei­fel­ba­ren, zeit­lo­sen Gewiss­hei­ten. Doch schon der Vor­so­kra­ti­ker Xeno­pha­nes erlang­te fol­gen­de Ein­sicht: »Selbst wenn es einem einst glückt, die voll­kom­mens­te Wahr­heit zu kün­den, wis­sen kann er sie nie. Es ist alles durch­webt von Vermutung.« 

Der Kri­ti­sche Ratio­na­lis­mus ver­tritt im Ein­klang mit Xeno­pha­nes die Auf­fas­sung, dass all unser Wis­sen fal­li­bel (feh­ler­an­fäl­lig) und damit bloß vor­läu­fig ist. Um unse­re Erkennt­nis­se mög­lichst sicher zu machen, müs­sen wir jede Theo­rie stets har­ten Prü­fun­gen unter­zie­hen und offen für bes­se­re Argu­men­te und Pro­blem­lö­sun­gen sein. Die­ses Vor­ge­hen ver­langt Mut zur Beschei­den­heit. Lei­der aber suchen wir lie­ber Bestä­ti­gun­gen für lieb­ge­won­ne­ne Mei­nun­gen und mögen es gar nicht, wenn gute Argu­men­te gegen die von uns ver­tre­te­ne Posi­ti­on ange­führt wer­den. Wäh­rend es uns leicht fällt, ande­re auf Irr­tü­mer hin­zu­wei­sen, stellt es eine Her­aus­for­de­rung dar, blin­de Fle­cken im eige­nen Den­ken auszumachen. 

Doch gera­de das Ein­ge­ständ­nis von Feh­lern und Denk­sack­gas­sen beför­dert das Aus­pro­bie­ren neu­er Lösungs­we­ge und den wis­sen­schaft­li­chen Ent­de­cker­geist. Wer sei­ne Mei­nung ändert, sieht die Welt plötz­lich mit ande­ren Augen. Wir tun also gut dar­an, unse­re Irr­tü­mer nicht als Nie­der­la­ge, son­dern als Chan­ce zu begrei­fen. Wenn wir unse­re Feh­ler schritt­wei­se kor­ri­gie­ren, kom­men wir der Wahr­heit näm­lich jedes Mal ein biss­chen näher und »irren uns empor«. 

Genau dar­in liegt die Stär­ke der Wis­sen­schaft: Sie gibt sich nicht mit ein­fa­chen Ant­wor­ten zufrie­den, son­dern hin­ter­fragt stän­dig ihre Annah­men. Unan­tast­ba­re Dog­men gibt es für sie daher eben­so wenig wie in Stein gemei­ßel­tes Wis­sen. Eine wis­sen­schaft­li­che, kri­tisch-ratio­na­le Hal­tung zeich­net sich dadurch aus, dass sie sich ihre eige­ne Beschränkt­heit bewusst macht und ehr­lich vor­ge­brach­te Kri­tik als Geschenk versteht.

Kritik als Geschenk

Da wir stets anfäl­lig für Denk­feh­ler und kogni­ti­ve Ver­zer­run­gen sind, soll­ten wir uns eine offe­ne Hal­tung für die Posi­tio­nen ande­rer bewah­ren. Der schlimms­te Feh­ler eines kri­ti­schen Ratio­na­lis­ten wäre, sich gegen Kri­tik zu immu­ni­sie­ren. Eine sol­che Immu­ni­sie­rung kann in der Auf­stel­lung einer Behaup­tung bestehen, die so vage ist, dass völ­lig unklar bleibt, wel­che empi­ri­schen Befun­de sie wider­le­gen könn­ten. Horo­sko­pe sind hier ein gutes Bei­spiel: Ihre Pro­gno­sen sind der­art unspe­zi­fisch, dass sie fast immer ein­tref­fen. Skep­tisch soll­te man auch immer dann sein, wenn eine Theo­rie ver­meint­lich für »alles« eine Erklä­rung parat hat: Wenn ein Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker etwa glaubt, sei­ne Kri­ti­ker wären bloß Mario­net­ten, die von fins­te­ren Strip­pen­zie­hern im Hin­ter­grund gelenkt wer­den, hat man einen guten Grund für noch schär­fe­re Ein­wän­de: Denn jetzt fin­det zusätz­lich zum ursprüng­li­chen Kri­tik­punkt eine Immu­ni­sie­rung statt, die das Ein­drin­gen ver­nünf­ti­ger Gegen­ar­gu­men­te in das zugrun­de lie­gen­de Welt­bild gar nicht mehr zulässt. 

Die Nei­gung, die eige­nen Mei­nun­gen gegen Kri­tik abzu­schir­men, ist ein Wesens­merk­mal des Men­schen. Nie­mand wird gern kri­ti­siert oder gibt leich­ten Her­zens lan­ge ver­tre­te­ne Über­zeu­gun­gen auf. Umso wich­ti­ger ist es, dass wir ler­nen, pro­duk­tiv zu strei­ten. Dazu gehört, Men­schen mit ande­ren Posi­tio­nen nicht pri­mär als Kon­tra­hen­ten wahr­zu­neh­men, son­dern als mög­li­che Kom­pli­zen in der gemein­sa­men Suche nach der Wahr­heit. Sei­ne eige­ne Mei­nung soll­te man kei­nes­wegs aus Grün­den miss­ver­stan­de­ner Höf­lich­keit zurück­hal­ten. Ideen haben nicht not­wen­di­ger­wei­se Respekt ver­dient – Men­schen hin­ge­gen schon. Wir soll­ten ein­an­der zutrau­en, inhalt­li­che Kri­tik aus­zu­hal­ten, ohne uns dabei per­sön­lich anzu­grei­fen. Es soll­te kei­nen Gesichts­ver­lust dar­stel­len, son­dern aus­drück­lich gelobt wer­den, wenn jemand auf­grund bes­se­rer Argu­men­te von sei­ner bis­he­ri­gen Mei­nung abrückt. Denn das Ein­ge­ständ­nis eines Feh­lers ist Aus­druck von intel­lek­tu­el­ler Red­lich­keit, die Aner­ken­nung verdient. 

Eine Gesprächs­kul­tur, die inhalt­li­che Kri­tik und mensch­li­che Wert­schät­zung ver­eint, muss frei­lich erst eta­bliert und ein­ge­übt wer­den – am bes­ten so früh wie mög­lich. Wenn uns das gelingt, kön­nen wir für Wis­sen­schaft, Poli­tik und unser all­täg­li­ches Zusam­men­le­ben gro­ßen Gewinn dar­aus zie­hen. Bereits Karl Pop­per (1902–1994) sag­te: »Der Kri­ti­sche Ratio­na­lis­mus ist eine Lebens­ein­stel­lung, die zugibt, dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst und dass wir zusam­men viel­leicht der Wahr­heit auf die Spur kom­men werden.«

Rationalität als Lebenshaltung

Um die Ratio­na­li­tät ran­ken sich vie­le Mythen und Vor­ur­tei­le. Den­ken wir nur ein­mal an das Para­de­bei­spiel eines ver­meint­lich »ratio­na­len« Wesens, das uns durch Cha­rak­te­re wie Mr. Spock oder Sher­lock Hol­mes in Film und Medi­en ver­mit­telt wird: Wir haben es hier mit eigen­bröt­le­ri­schen, gefühls­kal­ten Genies zu tun. An die­sem Bild ist jedoch so eini­ges unstimmig!

Ers­tens gelingt Ratio­na­li­tät am bes­ten im Ver­bund mit ande­ren als sozia­le Unter­neh­mung, bei der wir uns wech­sel­sei­tig über neue Erkennt­nis­se infor­mie­ren und Denk­feh­ler zu kor­ri­gie­ren ler­nen. Zwei­tens ste­hen Emo­tio­nen kei­nes­wegs im Wider­spruch zur Ver­nunft, son­dern lei­ten uns im Leben und moti­vie­ren uns zual­ler­erst zum Han­deln. Drit­tens kor­re­liert eine ratio­na­le Lebens­ein­stel­lung nicht not­wen­dig mit einem hohen Intel­li­genz­quo­ti­en­ten. Ein Genie zu sein, heißt noch lan­ge nicht, ver­nünf­tig den­ken zu können. 

Umge­kehrt kann jeder grund­le­gen­de Fähig­kei­ten des ratio­na­len Den­kens erler­nen. Im Grun­de ist es wie beim Kla­vier­spiel: Wer sich die Tech­ni­ken der Ratio­na­li­tät erst ein­mal ange­eig­net hat, setzt sie spä­ter, wenn es dar­auf ankommt, ganz intui­tiv ein, ohne noch dar­über nach­den­ken zu müs­sen – ver­gleich­bar mit einem Pia­nis­ten, der nach ent­spre­chen­der Übung selbst die schwie­rigs­ten Pas­sa­gen mit gro­ßer Leich­tig­keit meis­tert, ohne sich noch fra­gen zu müs­sen, wel­che Töne er da eigent­lich spielt. 

Die Ori­en­tie­rung am Ide­al der Ver­nunft ist eine Lebens­hal­tung, die mit Neu­gier, Lei­den­schaft und Freu­de ver­tre­ten wer­den kann. Als Kri­ti­sche Ratio­na­lis­ten stre­ben wir danach, unse­re Über­zeu­gun­gen im Lich­te neu­er Erkennt­nis­se anzu­pas­sen, uns unse­re kogni­ti­ven Ver­zer­run­gen bewusst zu machen und Mei­nun­gen nie ein­fach unhin­ter­fragt von Auto­ri­tä­ten zu über­neh­men – so geni­al sie auch auf den ers­ten Blick erschei­nen mögen.

Die Wiederverzauberung der Welt

Für vie­les, was in der Natur geschieht, hat­ten unse­re Vor­fah­ren kei­ne Erklä­rung. Sie wuss­ten bei­spiels­wei­se nicht, wie ein Gewit­ter ent­steht und mach­ten daher die Göt­ter für das mys­te­riö­se Wet­ter­phä­no­men ver­ant­wort­lich. Wir heu­ti­gen Men­schen ver­dan­ken es dem wis­sen­schaft­li­chen Fort­schritt, dass wir nicht mehr die Exis­tenz über­na­tür­li­cher Kräf­te anneh­men müs­sen, um die Welt um uns her­um zu ver­ste­hen. Uns ist klar, dass ein Blitz bloß eine elek­tri­sche Ent­la­dung ist und der Don­ner eine Druck­wel­le aus ver­dich­te­ten Luftmolekülen. 

Mit dem Sie­ges­zug von Ver­nunft und Wis­sen­schaft hängt zusam­men, was der Sozio­lo­ge Max Weber (1864–1920) um die Jahr­hun­dert­wen­de als »Ent­zau­be­rung der Welt« beschrieb: Die Welt wur­de jener geheim­nis­vol­len Mäch­te beraubt, wel­che vor­he­ri­ge Gene­ra­tio­nen noch in ihr wähn­ten. Was einst hei­lig war, wur­de pro­fan. Wis­sen und Berech­nung tra­ten an die Stel­le von Mythos und Wun­der­glau­be – ein Ratio­na­li­sie­rungs­pro­zess, der laut Weber mit Sinn- und Wert­ver­lust einhergeht.

Dabei ist dies nur die hal­be Wahr­heit: Tat­säch­lich hat die Wis­sen­schaft den Glau­ben an Wun­der, magi­sche Kräf­te und über­na­tür­li­che Wesen ent­kräf­tet. Im Gegen­zug leg­te sie dafür einen sehr viel tie­fe­ren Zau­ber frei, näm­lich die unend­li­chen Dimen­sio­nen eines Uni­ver­sums, das um ein Viel­fa­ches geheim­nis­vol­ler ist, als es sich sämt­li­che Reli­gi­ons­stif­ter haben vor­stel­len kön­nen. Die Ver­nunft hält uns zwar dazu an, über­hol­te Über­zeu­gun­gen und Mythen zu ent­zau­bern. Dies ändert jedoch nichts an der Mög­lich­keit, sich von der uner­mess­li­chen Kom­ple­xi­tät der Natur mit­rei­ßen zu las­sen. Eine auf­ge­klär­te, ratio­na­le Welt­sicht muss kei­nes­wegs kühl und starr sein, son­dern trägt eine ganz eige­ne Art des Zau­bers in sich.

Stel­len wir uns nur ein­mal vor, was es heißt, als Mensch auf die­ser Welt zu sein: Wir alle sind das zufäl­li­ge Pro­dukt einer andau­ern­den Erfolgs­ge­schich­te des Lebens, die von den Pro­to­or­ga­nis­men der Ursup­pe über die ers­ten Fische, Amphi­bi­en und Säu­ge­tie­re über Gene­ra­tio­nen von Affen zu unse­rer heu­ti­gen Spe­zi­es reicht. Jeder von uns trägt damit den­sel­ben Jahr­mil­li­ar­den alten »Lebens­keim« in sich, der im Lau­fe der Evo­lu­ti­on unun­ter­bro­chen wei­ter­ge­tra­gen wur­de und alles Leben auf die­ser Erde mit­ein­an­der ver­bin­det. Macht man sich die unge­heu­ren Dimen­sio­nen die­ses Staf­fel­laufs bewusst, so ent­deckt man, dass die wis­sen­schaft­li­che Welt­erklä­rung eine Fas­zi­na­ti­on besitzt, die zum ehr­fürch­ti­gen Stau­nen einlädt.

Urlaub von der Vernunft

Nicht alles, was im Uni­ver­sum geschieht, ist bereits ratio­nal erklärt wor­den. Das blin­de Wal­ten von Zufall und Not­wen­dig­keit in der Natur birgt noch vie­le Her­aus­for­de­run­gen. Oft­mals sto­ßen wir bei unse­ren For­schun­gen an Erkennt­nis­lü­cken und ‑gren­zen. Die­se soll­ten wir aber nicht mit Schein­ge­wiss­hei­ten über­tün­chen, son­dern als Anlass für wei­te­res Nach­den­ken und offe­ne Gesprä­che begrei­fen. Auf die­sem Wege kann es uns gelin­gen, unser Wis­sen Stück für Stück zu erwei­tern und unse­re Über­zeu­gun­gen an die Rea­li­tät anzupassen. 

Sich an der Ver­nunft zu ori­en­tie­ren, heißt aller­dings nicht, Tag und Nacht nur an der Lösung kom­ple­xer wis­sen­schaft­li­cher und phi­lo­so­phi­scher Pro­ble­me zu arbei­ten. Ein Welt­bild, das es wahr­haft ver­dient, ratio­nal genannt zu wer­den, berück­sich­tigt auch die sinn­lich-emo­tio­na­le Sei­te der mensch­li­chen Exis­tenz. Wir soll­ten aner­ken­nen, dass es für uns nicht ein­mal sinn­voll wäre, durch und durch ratio­na­le Wesen zu sein. Denn vie­les, was unse­rem Leben Sinn ver­leiht und uns glück­lich macht, ent­zieht sich der regle­men­tie­ren­den Kon­troll-Instanz der Ver­nunft. Wer hät­te sich bei­spiels­wei­se jemals ver­liebt, bloß weil dies »ver­nünf­tig« wäre? 

Das Leben wür­de uns außer­or­dent­lich schwer­fal­len, wenn wir immer und über­all ratio­nal sein müss­ten. Es ist daher durch­aus ver­nünf­tig, sich bewusst Zeit für Ent­span­nung zu neh­men und sich ab und an von den Anstren­gun­gen der Ratio­na­li­tät zu befrei­en. Umso bes­ser kön­nen wir sie in sol­chen Situa­tio­nen ein­set­zen, in denen wir mit ernst­zu­neh­men­den Pro­ble­men kon­fron­tiert sind, die unse­re vol­le Auf­merk­sam­keit erfordern. 

Bei aller Wert­schät­zung soll­ten wir auch nicht ver­ges­sen, dass die Ratio­na­li­tät kein Selbst­zweck ist. Sie ist viel­mehr ein Instru­ment, das uns hilft, die Welt um uns zu ver­ste­hen und unse­re Zie­le zu errei­chen. Dabei ist es wich­tig, dass wir nach­sich­tig sind und rea­lis­ti­sche Erwar­tun­gen an uns und ande­re stel­len. Schließ­lich ist es für nie­man­den ein­fach, in allen Lebens­la­gen ratio­nal zu sein.

Offene Denk- und Debattenräume

In den ver­gan­ge­nen Jah­ren haben sich die poli­ti­schen Fron­ten spür­bar ver­här­tet. Debat­ten wer­den zuneh­mend emo­tio­nal geführt und ein ratio­na­ler Aus­tausch von Argu­men­ten wird durch per­sön­li­che Anfein­dun­gen erschwert. Immer häu­fi­ger tritt eine Empö­rungs­kul­tur zu Tage, in der Anders­den­ken­de aus­ge­grenzt und dif­fa­miert wer­den, weil sie eine abwei­chen­de Mei­nung ver­tre­ten. Auf der »rich­ti­gen Sei­te« zu ste­hen, zählt heu­te oft mehr, als unter­schied­li­che Sicht­wei­sen unvor­ein­ge­nom­men gegen­ein­an­der abzuwägen. 

Dabei gehört der offe­ne und fai­re Wett­be­werb der Ideen zu den wich­tigs­ten Stütz­pfei­lern einer libe­ra­len Demo­kra­tie. Wenn wir den Mei­nungs­kor­ri­dor und damit die Gren­ze des Sag­ba­ren zu sehr ein­engen, wür­den wir uns nur noch wech­sel­sei­tig in unse­ren Ansich­ten bestär­ken, statt uns mit alter­na­ti­ven Per­spek­ti­ven und Lebens­wel­ten aus­ein­an­der­zu­set­zen. Den gesell­schaft­li­chen Fort­schritt wür­den wir damit zum Erlie­gen brin­gen, da wir nie­man­den hät­ten, der uns kor­ri­gie­ren könnte. 

Auch wenn es schmerz­haft ist: In einer plu­ra­len Gesell­schaft müs­sen wir es aus­hal­ten, dass Men­schen zu ande­ren Über­zeu­gun­gen gelan­gen, als wir es tun. Wir müs­sen eben­so damit leben, dass unse­re eige­nen Ansich­ten kri­ti­siert und ver­wor­fen wer­den. Dies erfor­dert ein hohes Maß an Tole­ranz, wel­ches wir nur ungern auf­brin­gen. Aber das ist nun ein­mal der Preis, den wir für eine Gesell­schaft zah­len, in der Gedan­ken- und Mei­nungs­frei­heit nicht nur lee­re Wort­hül­sen sind. 

Offe­ne Debat­ten­räu­me sind die Vor­aus­set­zung für eine kon­struk­ti­ve Streit­kul­tur. Sie gilt es gegen eine fort­schrei­ten­de »Can­cel Cul­tu­re« zu ver­tei­di­gen, die unlieb­sa­me Posi­tio­nen dele­gi­ti­miert und Abweich­ler an den Rand drängt. Zugleich braucht es aber auch klar defi­nier­te Regeln des zivi­li­sier­ten Wider­streits, um eine Debat­te über­haupt ratio­nal füh­ren zu kön­nen. Ohne sie wäre eine gemein­sa­me Ver­stän­di­gung zwi­schen ver­schie­de­nen Stand­punk­ten kaum möglich.

Streiten muss gelernt sein

Egal ob Kli­ma­wan­del, Coro­na-Pan­de­mie oder Flücht­lings­kri­se: In Dis­kus­sio­nen über kon­tro­ver­se The­men kommt eine tie­fe Pola­ri­sie­rung der Gesell­schaft immer deut­li­cher zum Vor­schein. Öffent­li­che Dis­kur­se wer­den häu­fig von Extrem­po­si­tio­nen domi­niert, die den Anschein erwe­cken, dass es bei der Lösung von Pro­ble­men nur zwei radi­ka­le Alter­na­ti­ven gäbe. Hans Albert hat das Anbie­ten sol­cher schein­bar aus­weg­lo­ser Sze­na­ri­en schon vor 50 Jah­ren als »Alter­na­tiv-Radi­ka­lis­mus« kri­ti­siert. Sei­ne Ana­ly­se ist ange­sichts des vor­herr­schen­den Schwarz- Weiß-Den­kens erschre­ckend aktu­ell geblie­ben. Denn sie führt uns vor Augen, wie wich­tig eine ratio­na­le Streit­kul­tur ist, wenn wir uns die Offen­heit für alter­na­ti­ve Pro­blem­lö­sun­gen bewah­ren wollen. 

Damit sich eine sol­che Kul­tur des Strei­tens eta­blie­ren kann, müs­sen gewis­se Min­dest­an­for­de­run­gen erfüllt sein. Allen Teil­neh­mern einer Debat­te soll­te etwa klar sein, dass die Ver­nunft nicht zwangs­läu­fig bei einer bestimm­ten gesell­schaft­li­chen Grup­pie­rung behei­ma­tet ist. Die Güte eines Argu­ments hängt näm­lich nicht davon ab, von wem es geäu­ßert wird, son­dern allein davon, ob es ratio­na­len Ansprü­chen genügt. Ent­schei­dend ist nicht, ob eine Aus­sa­ge aus dem lin­ken oder aus dem rech­ten Lager stammt, son­dern ob sie wider­spruchs­frei, kri­ti­sier­bar und pro­blem­lö­send ist. Wer sich der Ratio­na­li­tät ver­pflich­tet fühlt, nimmt daher Abschied von jedem iden­ti­tä­ren Den­ken und ergreift Par­tei für die Stim­me der Vernunft. 

Eine pro­duk­ti­ve Dis­kus­si­on kann erst dann gelin­gen, wenn wir unse­rem Gesprächs­part­ner mit Wohl­wol­len ent­ge­gen­tre­ten und grund­sätz­lich dazu bereit sind, uns über­zeu­gen zu las­sen. Per­sön­li­che Anfein­dun­gen und Miss­bil­li­gun­gen zei­gen dage­gen nur, dass man kein Ver­trau­en in die Stär­ke der eige­nen Argu­men­te besitzt und die Posi­ti­on sei­nes Gegen­übers nicht ernst nimmt. Respekt­lo­ses Ver­hal­ten unter­gräbt damit die Grund­la­ge einer ratio­na­len Debatte. 

Aller­dings soll­ten wir die kri­ti­sche Auf­ge­schlos­sen­heit nicht mit einer nai­ven Belie­big­keit ver­wech­seln: Schließ­lich gibt es auch Hal­tun­gen, die den Prin­zi­pi­en der offe­nen Gesell­schaft feind­lich gegen­über­ste­hen. Ins­be­son­de­re extre­mis­ti­schen und tota­li­tä­ren Ein­stel­lun­gen soll­ten wir kei­ne Tole­ranz ent­ge­gen­brin­gen, da wir sonst in Gefahr gera­ten, unse­re eige­ne Frei­heit abzuschaffen.

Wie man Rationalität trainieren kann

Es ist nicht leicht, ratio­nal zu sein. Aber man kann die­se Fähig­keit trai­nie­ren. Hilf­reich ist dabei, sich die fol­gen­den ein­fa­chen Hand­lungs­auf­for­de­run­gen bewusst zu machen:

Sei beschei­den! Jeder Mensch unter­liegt kogni­ti­ven Ver­zer­run­gen und ist anfäl­lig für Irr­tü­mer – auch du und ich.

Sei kri­tisch! Jedes Wis­sen ist vor­läu­fig und muss sich stren­gen Prü­fun­gen unter­zie­hen, um sich zu bewäh­ren. Beleuch­te Aus­sa­gen auf ihre Wider­spruchs­frei­heit, Kri­ti­sier­bar­keit und empi­ri­sche Qualität.

Sei offen! Ande­re Ansich­ten hel­fen uns dabei, unser eige­nes Den­ken zu erwei­tern. Ver­ste­he ehr­lich gemein­te Kri­tik daher nicht als Beläs­ti­gung, son­dern als Geschenk, das dir dabei hel­fen kann, dich von dei­nen Irr­tü­mern zu befreien.

Sei unvor­ein­ge­nom­men! Ob eine Aus­sa­ge rich­tig oder falsch ist, hängt nicht davon ab, wer sie äußert. Eine dir im höchs­ten Maße unsym­pa­thi­sche Per­son kann rich­ti­ge Argu­men­te vor­brin­gen und eine dir sym­pa­thi­sche Per­son mit ihren Argu­men­ten völ­lig dane­ben liegen.

Sei nach­sich­tig! Für nie­man­den ist es ein­fach, ratio­nal zu sein. Ver­mut­lich wür­dest auch du irra­tio­nal argu­men­tie­ren, wenn du ähn­li­che Erfah­run­gen gemacht hät­test wie die­je­ni­gen, die du nun kritisierst.

Sei enga­giert! Eine ratio­na­le Poli­tik ist nur in einer offe­nen Gesell­schaft mög­lich. Es ist unse­re gemein­sa­me Auf­ga­be, sie gegen ihre tota­li­tä­ren Fein­de zu verteidigen.

Sei wohl­wol­lend! Ein pro­duk­ti­ver Aus­tausch der Ideen ist nur dann mög­lich, wenn wir unse­re Gesprächs­part­ner ernst neh­men. Ver­su­che, die Ideen Anders­den­ken­der zunächst ein­mal best­mög­lich zu ver­ste­hen, bevor du sie kritisierst.

Sei ent­spannt! Nicht alles im Leben rich­tet sich nach ratio­na­len Maß­stä­ben. Manch­mal muss man alle Fün­fe gera­de sein las­sen, obwohl die Mathe­ma­tik etwas ande­res ver­langt. Wich­tig ist jedoch, auf Ratio­na­li­tät über­all dort zu pochen, wo etwas auf dem Spiel steht – vor allem in der Politik.

Zum Weiterlesen

Hans Albert

Trak­tat über kri­ti­sche Vernunft

Mohr Sie­beck (1968/1991)

Micha­el Schmidt-Salomon

Die Gren­zen der Tole­ranz — Waurm wir die offe­ne Gesell­schaft ver­tei­di­gen müssen

Piper (2016)

Tobi­as Wolf­ram / Felix Urban / Micha­el Tezak / Johan­nes Kurzbuch 

Pro­duk­ti­ves Strei­ten — Aus­we­ge aus einer defi­zi­tä­ren Debattenkultur 

Ali­bri (2020)

Impressum

© Hans-Albert-Insti­tut / Giord­a­no-Bru­no-Stif­tung 2020 

Redak­ti­on: Jonas Pöld, Flo­ri­an Che­fai (V.i.S.d.P.), Sophie Strobl, Micha­el Schmidt-Salo­mon, Felix Bölter 

Lek­to­rat: Lui­sa Len­ne­per, Hel­mut Fink

Lay­out: Saskia Zillekens

 

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