Leidenschaft
zur Vernunft
Kritischer Rationalismus als Lebenshaltung
Leidenschaft
zur Vernunft
Kritischer Rationalismus als Lebenshaltung
Der folgende Text liegt als Broschüre vor, die als PDF-Dokument heruntergeladen und beim Sekretariat der Giordano-Bruno-Stiftung als Print-Version bestellt werden kann.
»Nur Anschauungen, die kritischen Argumenten ausgesetzt werden,
können sich bewähren.«
HANS ALBERT
Warum wir uns für
Rationalität einsetzen
Während die kritisch-rationale Denkweise für viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Alltagspraxis gehört, wird sie im politischen Tagesgeschäft oft sträflich vernachlässigt. Dies liegt nicht nur daran, dass Politikerinnen und Politiker unter erheblichem Zeitdruck stehen und es für sie kaum möglich ist, komplexe Themen in ihrer Tiefe zu durchdringen. Es liegt auch an den verschiedenen Währungen, die in Wissenschaft und Politik eine Rolle spielen: Im Wissenschaftssystem geht es hauptsächlich um Erwerb und Erhalt von Wissen, in der Politik dagegen um Erwerb und Erhalt von Macht. So werden wissenschaftliche Standards oftmals zugunsten von Partikularinteressen geopfert.
Mit einigen Anstrengungen ist eine kritisch-rationale Politik jedoch sehr wohl möglich. Dafür ist es allerdings erforderlich, dass politische Entscheidungsprozesse als Problemlösungsversuche angesehen werden, die sich bewähren, aber auch scheitern können. Eine solche Politik könnte dem Projekt der Aufklärung zu neuer Blüte verhelfen.
Anlässlich des 99. Geburtstags des Philosophen Hans Albert entstand im Umfeld der Giordano-Bruno-Stiftung die Idee, ein »Institut zur Förderung des kritisch-rationalen Denkens in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft« zu gründen. Das Hans-Albert-Institut (HAI) soll komplexe gesellschaftliche Probleme auf Basis der Menschenrechte, aber möglichst unbeeinflusst von politischen Ideologien, weltanschaulichen Vorurteilen oder lobbyistischen Interessen beleuchten. Dazu veröffentlicht es unter anderem Standpunktpapiere und übersichtliche Fact-Sheets zu ausgewählten Themen, welche durch anerkannte Experten erarbeitet werden. Der aktuelle Stand der Forschung sowie darauf basierende Handlungsempfehlungen für Politik und Gesellschaft sollen dabei möglichst allgemeinverständlich und praxisnah präsentiert werden.
Gerade in der heutigen, von Moralisierung und identitärem Lagerdenken geprägten Debatte ist eine kritisch-rationale Herangehensweise erforderlich. Denn es gilt mehr denn je, heiße Eisen mit kühlem Verstand anzupacken, was verlangt, dass man weder in die Falle des Dogmatismus noch in die Falle des postmodernen Beliebigkeitsdenkens läuft. Hans Albert hat gezeigt, wie man diese Sackgassen vermeidet. Es liegt nun an uns, diese Techniken auf die relevanten Probleme unserer Zeit anzuwenden, etwa auf Fragen des Umweltschutzes, der Ressourcenverteilung, der Bioethik oder der Chancen und Risiken der Künstlichen Intelligenz.
Rationalität in der Krise
Die Rationalität, so mag es manchen schon durch den Kopf gegangen sein, hat heutzutage einen schweren Stand. Falschmeldungen und Verschwörungstheorien verbreiten sich allerorts, und selbst ranghohe Politiker legen sich ihre ganz persönlichen »alternativen Fakten« zurecht. Die weite Welt des Internets stellt uns vor die Schwierigkeit, aus einer unüberschaubaren Menge von Meinungen verlässliche Informationen zu filtern. Wer soll da noch den Durchblick behalten? Viele Menschen verlieren nicht nur das Vertrauen in Medien und Politik, sondern stellen grundsätzlich die Möglichkeit von Wahrheit, wissenschaftlicher Erkenntnis und Objektivität in Frage. Doch in einer Zeit, in der wir globalen Herausforderungen wie der Corona-Pandemie, der ökologischen Krise und der Entwicklung künstlicher Intelligenz gegenüberstehen, ist ein vernunftgeleiteter Diskurs nötiger denn je.
Wir sollten uns daher heute verstärkt Gedanken darüber machen, was rationales Denken und Handeln kennzeichnet und wie wir es befördern können. Da Rationalität ein inflationär genutzter Begriff ist, kann es manchmal schwer sein, ein klares Bild davon zu haben, was eigentlich darunter zu verstehen ist. In einem allgemeinen Sinn meint er letztlich nichts anderes als die Kunst des richtigen Denkens – also einer Form des Nachdenkens über die Welt, bei der wir aus unserem Wissen und unseren Erfahrungen angemessene, das heißt logisch fehlerfreie Schlüsse ziehen.
Kaum jemand wird ernsthaft bestreiten, dass Rationalität wichtig ist. Wir beanspruchen für uns selbst, meist rational zu sein. Öfter als uns lieb ist, entscheiden wir jedoch einfach aus dem Bauch heraus. Spätestens wenn einiges auf dem Spiel steht, sollten wir aber unseren Kopf einschalten. Wir alle tragen Verantwortung für unsere Entscheidungen, der wir nur gerecht werden können, wenn wir uns dabei von Fakten und Logik leiten lassen, nicht von »gefühlten Wahrheiten«. Wie aber kann Rationalität dabei helfen, insbesondere die komplexen Herausforderungen unserer Gegenwart zu meistern? Wodurch zeichnet sich eine rationale Einstellung zur Welt eigentlich aus? Und warum fällt es uns so schwer, immer rational zu sein?
Homo Sapiens –
Das vernunftbegabte Tier
Die meiste Zeit verstehen wir uns selbst als vernünftig. Wir setzen im Alltag auch Vertrauen in die Vernunft der anderen, beispielsweise, wenn wir im Straßenverkehr unterwegs sind. Doch dort und in anderen Lebenslagen merken wir ebenso, wie unvernünftig sich Menschen oft verhalten. Wie ist das zu erklären? Es ist hilfreich, hierzu einen Blick in die weit zurückliegende Geschichte unserer Spezies zu werfen: Unser Wahrnehmen und Denken ist das Resultat eines Millionen Jahre andauernden Evolutionsprozesses, in dem es vor allem darum ging, Überleben und Fortpflanzung zu sichern. Für unsere Vorfahren war es daher wichtig, schnelle Entscheidungen zu treffen, die sie vor möglichen Gefahren schützten. Dafür machten sie sich Denkabkürzungen, sogenannte Heuristiken zunutze, die sie intuitiv in eine bestimmte Richtung lenkten. Hätten sie bei jedem Rascheln im Gebüsch erst sorgfältig abgewogen, ob es sich tatsächlich um ein Raubtier handelt oder nicht, wären sie wohl schnell in dessen Magen gelandet. Uns würde es heute gar nicht geben, wenn unsere Vorfahren nicht lieber zu oft als einmal zu wenig die Flucht ergriffen hätten.
Die kognitiven Strukturen, die sich im Laufe der Evolution entwickelt haben, wurden an uns weitervererbt und garantieren keineswegs ein wahrheitsgetreues Abbild der Wirklichkeit. In der Regel können wir uns zwar auf sie verlassen, aber wir sind stets auch anfällig für Täuschungen und Fehleinschätzungen über die Beschaffenheit der Realität. Glücklicherweise hat die Menschheit mit der Wissenschaft ein Instrument gefunden, um diese fehlerhaften Annahmen zu korrigieren.
Die Entwicklung der Wissenschaft schreitet ähnlich voran wie die biologische Evolution: Theorien, die zu falschen Vorhersagen führen, verschwinden, während erfolgreiche Theorien bis auf Weiteres im Rennen bleiben. Dieses kritisch-rationale Verfahren hat der Menschheit zu großen Fortschritten verholfen: Während unsere Vorfahren unter Einsatz von Leib und Leben herausfinden mussten, ob zum Beispiel eine bestimmte Pflanze giftig ist, können wir uns mit Bedacht an die Welt herantasten und Theorien sterben lassen – statt Menschen.
Die kulturgeschichtliche Entdeckung der Vernunft führte in der Epoche der Aufklärung dazu, dass die rationale Seite des Menschen über die Maßen glorifiziert und zum höchsten Ziel erhoben wurde. Nach Darwin wissen wir jedoch, dass dies nur eine Seite der Medaille ist. Insbesondere neue Erkenntnisse der Naturwissenschaften zeigen, dass der Mensch in seinem Denken und Handeln von zahlreichen Faktoren beeinflusst wird, die nicht notwendigerweise rational sein müssen. Allerdings können wir bessere Entscheidungen treffen und sind weniger anfällig für Manipulationen, wenn wir uns bewusst machen, wann und weshalb wir nicht immer rational sind und welchen kognitiven Verzerrungen wir unterliegen. Um diese soll es im nächsten Abschnitt gehen.
Fallstricke des Denkens
Das menschliche Gehirn ist angepasst an eine Welt, die mit der unsrigen nur noch manches gemein hat. Auf die Komplexität und den Informationsüberfluss der modernen, globalisierten Welt sind wir evolutionsbiologisch nicht vorbereitet. Da sich unsere Vorfahren nicht mit Lebensproblemen auseinandersetzen mussten, die tausend Menschen oder mehr betreffen, können wir uns diese Bereiche nur schwer vorstellen. Rationales Denken wird erschwert von einer Vielzahl solcher kognitiver Verzerrungen (»Biases«), die unsere Weltsicht systematisch verfälschen. Sich mit diesen Wahrnehmungs- und Denkfehlern zu beschäftigen, empfiehlt sich vor allem deshalb, weil wir die Tendenz haben, uns in unserem Denken für vollkommen objektiv und unbeeinflusst zu halten. Aber das ist schon gleich der erste Denkfehler – der sogenannte Bias Blind Spot (»Verzerrungsblindheit«)!
Erkenntnistheoretisch besonders relevant ist zum Beispiel der Bestätigungsfehler: Daten, die unsere bestehende Einstellung stützen, bewerten wir höher als entgegenstehende Informationen. Oft wischen wir letztere nicht einfach nur leichtfertig beiseite, sondern nehmen sie nicht einmal wahr. Kein Wunder, denn die Konfrontation mit Informationen, die unseren Ansichten entgegenstehen, aktiviert Schmerzzentren im Gehirn. Da ist es aus psychologischer Perspektive nur allzu verständlich, wenn wir zu Verdrängung neigen.
Aus erkenntnistheoretischer Sicht ist dieser Mechanismus hingegen fatal, weil wir somit womöglich falsche Überzeugungen dogmatisch verfestigen. Das ist umso problematischer, da wir im alltäglichen Prozess der Erkenntnisgewinnung noch weiteren Biases unterliegen. Da wäre zum Beispiel der Verfügbarkeitsfehler: Die Häufigkeit eines Ereignisses wird von uns nicht statistisch, sondern anhand von persönlichen Erfahrungen und anekdotischen Erzählungen erfasst. Und gemäß dem Dunning-Kruger-Effekt überschätzen wir unsere eigene Expertise maßlos, gerade dann, wenn wir uns kaum mit dem entsprechenden Thema auseinandergesetzt haben. So behaupten 80 Prozent der befragten Autofahrer in einer Studie von sich, bessere Fahrfähigkeiten als der Durchschnitt zu haben. Da kann doch irgendetwas nicht stimmen …
Verantwortung zur Rationalität
Angesichts der Komplexität und Dringlichkeit der gegenwärtigen Herausforderungen brauchen wir ein möglichst genaues Bild von den Problemen und Lösungsoptionen. Im Umgang mit Pandemien oder der Klimakrise ist es unabdingbar, rational vorzugehen: Von der Klugheit unserer Entscheidungen hängt letztlich nicht weniger als die Zukunft des Lebens auf unserem Planeten ab. Rationalität hat demnach nicht nur eine erkenntnistheoretische, sondern auch eine ethische Dimension.
Doch unser Handeln wird dadurch erschwert, dass wir in einer Zeit der Ungleichzeitigkeit leben: Während die Entwicklung der Technik rasant voranschreitet, verlassen wir uns zu sehr auf gewohnte Weltanschauungen und Erklärungssysteme. Die negativen Auswirkungen einer Technologie werden uns oftmals erst dann bewusst, wenn sie schon flächendeckend etabliert ist. Dadurch kann das Gefühl entstehen, dass die Technik uns im Griff hat und nicht umgekehrt.
Diesen Trend gilt es umzukehren: Wir sollten lernen, »auf Vorrat zu denken« und bereits jetzt die am Horizont aufscheinenden Risiken von Biotechnologien und Künstlicher Intelligenz in den Blick nehmen. Je mehr Zeit uns zur Verfügung steht, desto genauer können wir unsere Lösungsoptionen prüfen – und damit verantwortungsbewusster entscheiden.
Nicht nur als Einzelne, sondern auch als Gesellschaft sollten wir der Rationalität einen höheren Stellenwert einräumen, als es bislang getan wurde. Denn je höher der technologische Entwicklungsstand einer Kultur ist, desto größer ist auch ihr Selbstzerstörungspotenzial. Aus diesem Grund müssen wir heute mehr denn je dafür Sorge tragen, dass die rationalen Prinzipien, die wir in der Technologie ganz selbstverständlich akzeptieren, auch im weltanschaulich-politischen Bereich berücksichtigt werden. Um dies zu gewährleisten, braucht es ein zukunftsfähiges Bildungssystem, in dem nicht nur der aktuelle Stand wissenschaftlicher Forschung vermittelt, sondern auch die Grundlagen der Rationalität von der Pike auf erlernt werden.
Wir irren uns empor
Lange Zeit befanden sich Wissenschaft und Philosophie auf der Suche nach unanzweifelbaren, zeitlosen Gewissheiten. Doch schon der Vorsokratiker Xenophanes erlangte folgende Einsicht: »Selbst wenn es einem einst glückt, die vollkommenste Wahrheit zu künden, wissen kann er sie nie. Es ist alles durchwebt von Vermutung.«
Der Kritische Rationalismus vertritt im Einklang mit Xenophanes die Auffassung, dass all unser Wissen fallibel (fehleranfällig) und damit bloß vorläufig ist. Um unsere Erkenntnisse möglichst sicher zu machen, müssen wir jede Theorie stets harten Prüfungen unterziehen und offen für bessere Argumente und Problemlösungen sein. Dieses Vorgehen verlangt Mut zur Bescheidenheit. Leider aber suchen wir lieber Bestätigungen für liebgewonnene Meinungen und mögen es gar nicht, wenn gute Argumente gegen die von uns vertretene Position angeführt werden. Während es uns leicht fällt, andere auf Irrtümer hinzuweisen, stellt es eine Herausforderung dar, blinde Flecken im eigenen Denken auszumachen.
Doch gerade das Eingeständnis von Fehlern und Denksackgassen befördert das Ausprobieren neuer Lösungswege und den wissenschaftlichen Entdeckergeist. Wer seine Meinung ändert, sieht die Welt plötzlich mit anderen Augen. Wir tun also gut daran, unsere Irrtümer nicht als Niederlage, sondern als Chance zu begreifen. Wenn wir unsere Fehler schrittweise korrigieren, kommen wir der Wahrheit nämlich jedes Mal ein bisschen näher und »irren uns empor«.
Genau darin liegt die Stärke der Wissenschaft: Sie gibt sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden, sondern hinterfragt ständig ihre Annahmen. Unantastbare Dogmen gibt es für sie daher ebenso wenig wie in Stein gemeißeltes Wissen. Eine wissenschaftliche, kritisch-rationale Haltung zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich ihre eigene Beschränktheit bewusst macht und ehrlich vorgebrachte Kritik als Geschenk versteht.
Kritik als Geschenk
Da wir stets anfällig für Denkfehler und kognitive Verzerrungen sind, sollten wir uns eine offene Haltung für die Positionen anderer bewahren. Der schlimmste Fehler eines kritischen Rationalisten wäre, sich gegen Kritik zu immunisieren. Eine solche Immunisierung kann in der Aufstellung einer Behauptung bestehen, die so vage ist, dass völlig unklar bleibt, welche empirischen Befunde sie widerlegen könnten. Horoskope sind hier ein gutes Beispiel: Ihre Prognosen sind derart unspezifisch, dass sie fast immer eintreffen. Skeptisch sollte man auch immer dann sein, wenn eine Theorie vermeintlich für »alles« eine Erklärung parat hat: Wenn ein Verschwörungstheoretiker etwa glaubt, seine Kritiker wären bloß Marionetten, die von finsteren Strippenziehern im Hintergrund gelenkt werden, hat man einen guten Grund für noch schärfere Einwände: Denn jetzt findet zusätzlich zum ursprünglichen Kritikpunkt eine Immunisierung statt, die das Eindringen vernünftiger Gegenargumente in das zugrunde liegende Weltbild gar nicht mehr zulässt.
Die Neigung, die eigenen Meinungen gegen Kritik abzuschirmen, ist ein Wesensmerkmal des Menschen. Niemand wird gern kritisiert oder gibt leichten Herzens lange vertretene Überzeugungen auf. Umso wichtiger ist es, dass wir lernen, produktiv zu streiten. Dazu gehört, Menschen mit anderen Positionen nicht primär als Kontrahenten wahrzunehmen, sondern als mögliche Komplizen in der gemeinsamen Suche nach der Wahrheit. Seine eigene Meinung sollte man keineswegs aus Gründen missverstandener Höflichkeit zurückhalten. Ideen haben nicht notwendigerweise Respekt verdient – Menschen hingegen schon. Wir sollten einander zutrauen, inhaltliche Kritik auszuhalten, ohne uns dabei persönlich anzugreifen. Es sollte keinen Gesichtsverlust darstellen, sondern ausdrücklich gelobt werden, wenn jemand aufgrund besserer Argumente von seiner bisherigen Meinung abrückt. Denn das Eingeständnis eines Fehlers ist Ausdruck von intellektueller Redlichkeit, die Anerkennung verdient.
Eine Gesprächskultur, die inhaltliche Kritik und menschliche Wertschätzung vereint, muss freilich erst etabliert und eingeübt werden – am besten so früh wie möglich. Wenn uns das gelingt, können wir für Wissenschaft, Politik und unser alltägliches Zusammenleben großen Gewinn daraus ziehen. Bereits Karl Popper (1902–1994) sagte: »Der Kritische Rationalismus ist eine Lebenseinstellung, die zugibt, dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst und dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen werden.«
Rationalität als Lebenshaltung
Um die Rationalität ranken sich viele Mythen und Vorurteile. Denken wir nur einmal an das Paradebeispiel eines vermeintlich »rationalen« Wesens, das uns durch Charaktere wie Mr. Spock oder Sherlock Holmes in Film und Medien vermittelt wird: Wir haben es hier mit eigenbrötlerischen, gefühlskalten Genies zu tun. An diesem Bild ist jedoch so einiges unstimmig!
Erstens gelingt Rationalität am besten im Verbund mit anderen als soziale Unternehmung, bei der wir uns wechselseitig über neue Erkenntnisse informieren und Denkfehler zu korrigieren lernen. Zweitens stehen Emotionen keineswegs im Widerspruch zur Vernunft, sondern leiten uns im Leben und motivieren uns zuallererst zum Handeln. Drittens korreliert eine rationale Lebenseinstellung nicht notwendig mit einem hohen Intelligenzquotienten. Ein Genie zu sein, heißt noch lange nicht, vernünftig denken zu können.
Umgekehrt kann jeder grundlegende Fähigkeiten des rationalen Denkens erlernen. Im Grunde ist es wie beim Klavierspiel: Wer sich die Techniken der Rationalität erst einmal angeeignet hat, setzt sie später, wenn es darauf ankommt, ganz intuitiv ein, ohne noch darüber nachdenken zu müssen – vergleichbar mit einem Pianisten, der nach entsprechender Übung selbst die schwierigsten Passagen mit großer Leichtigkeit meistert, ohne sich noch fragen zu müssen, welche Töne er da eigentlich spielt.
Die Orientierung am Ideal der Vernunft ist eine Lebenshaltung, die mit Neugier, Leidenschaft und Freude vertreten werden kann. Als Kritische Rationalisten streben wir danach, unsere Überzeugungen im Lichte neuer Erkenntnisse anzupassen, uns unsere kognitiven Verzerrungen bewusst zu machen und Meinungen nie einfach unhinterfragt von Autoritäten zu übernehmen – so genial sie auch auf den ersten Blick erscheinen mögen.
Die Wiederverzauberung der Welt
Für vieles, was in der Natur geschieht, hatten unsere Vorfahren keine Erklärung. Sie wussten beispielsweise nicht, wie ein Gewitter entsteht und machten daher die Götter für das mysteriöse Wetterphänomen verantwortlich. Wir heutigen Menschen verdanken es dem wissenschaftlichen Fortschritt, dass wir nicht mehr die Existenz übernatürlicher Kräfte annehmen müssen, um die Welt um uns herum zu verstehen. Uns ist klar, dass ein Blitz bloß eine elektrische Entladung ist und der Donner eine Druckwelle aus verdichteten Luftmolekülen.
Mit dem Siegeszug von Vernunft und Wissenschaft hängt zusammen, was der Soziologe Max Weber (1864–1920) um die Jahrhundertwende als »Entzauberung der Welt« beschrieb: Die Welt wurde jener geheimnisvollen Mächte beraubt, welche vorherige Generationen noch in ihr wähnten. Was einst heilig war, wurde profan. Wissen und Berechnung traten an die Stelle von Mythos und Wunderglaube – ein Rationalisierungsprozess, der laut Weber mit Sinn- und Wertverlust einhergeht.
Dabei ist dies nur die halbe Wahrheit: Tatsächlich hat die Wissenschaft den Glauben an Wunder, magische Kräfte und übernatürliche Wesen entkräftet. Im Gegenzug legte sie dafür einen sehr viel tieferen Zauber frei, nämlich die unendlichen Dimensionen eines Universums, das um ein Vielfaches geheimnisvoller ist, als es sich sämtliche Religionsstifter haben vorstellen können. Die Vernunft hält uns zwar dazu an, überholte Überzeugungen und Mythen zu entzaubern. Dies ändert jedoch nichts an der Möglichkeit, sich von der unermesslichen Komplexität der Natur mitreißen zu lassen. Eine aufgeklärte, rationale Weltsicht muss keineswegs kühl und starr sein, sondern trägt eine ganz eigene Art des Zaubers in sich.
Stellen wir uns nur einmal vor, was es heißt, als Mensch auf dieser Welt zu sein: Wir alle sind das zufällige Produkt einer andauernden Erfolgsgeschichte des Lebens, die von den Protoorganismen der Ursuppe über die ersten Fische, Amphibien und Säugetiere über Generationen von Affen zu unserer heutigen Spezies reicht. Jeder von uns trägt damit denselben Jahrmilliarden alten »Lebenskeim« in sich, der im Laufe der Evolution ununterbrochen weitergetragen wurde und alles Leben auf dieser Erde miteinander verbindet. Macht man sich die ungeheuren Dimensionen dieses Staffellaufs bewusst, so entdeckt man, dass die wissenschaftliche Welterklärung eine Faszination besitzt, die zum ehrfürchtigen Staunen einlädt.
Urlaub von der Vernunft
Nicht alles, was im Universum geschieht, ist bereits rational erklärt worden. Das blinde Walten von Zufall und Notwendigkeit in der Natur birgt noch viele Herausforderungen. Oftmals stoßen wir bei unseren Forschungen an Erkenntnislücken und ‑grenzen. Diese sollten wir aber nicht mit Scheingewissheiten übertünchen, sondern als Anlass für weiteres Nachdenken und offene Gespräche begreifen. Auf diesem Wege kann es uns gelingen, unser Wissen Stück für Stück zu erweitern und unsere Überzeugungen an die Realität anzupassen.
Sich an der Vernunft zu orientieren, heißt allerdings nicht, Tag und Nacht nur an der Lösung komplexer wissenschaftlicher und philosophischer Probleme zu arbeiten. Ein Weltbild, das es wahrhaft verdient, rational genannt zu werden, berücksichtigt auch die sinnlich-emotionale Seite der menschlichen Existenz. Wir sollten anerkennen, dass es für uns nicht einmal sinnvoll wäre, durch und durch rationale Wesen zu sein. Denn vieles, was unserem Leben Sinn verleiht und uns glücklich macht, entzieht sich der reglementierenden Kontroll-Instanz der Vernunft. Wer hätte sich beispielsweise jemals verliebt, bloß weil dies »vernünftig« wäre?
Das Leben würde uns außerordentlich schwerfallen, wenn wir immer und überall rational sein müssten. Es ist daher durchaus vernünftig, sich bewusst Zeit für Entspannung zu nehmen und sich ab und an von den Anstrengungen der Rationalität zu befreien. Umso besser können wir sie in solchen Situationen einsetzen, in denen wir mit ernstzunehmenden Problemen konfrontiert sind, die unsere volle Aufmerksamkeit erfordern.
Bei aller Wertschätzung sollten wir auch nicht vergessen, dass die Rationalität kein Selbstzweck ist. Sie ist vielmehr ein Instrument, das uns hilft, die Welt um uns zu verstehen und unsere Ziele zu erreichen. Dabei ist es wichtig, dass wir nachsichtig sind und realistische Erwartungen an uns und andere stellen. Schließlich ist es für niemanden einfach, in allen Lebenslagen rational zu sein.
Offene Denk- und Debattenräume
In den vergangenen Jahren haben sich die politischen Fronten spürbar verhärtet. Debatten werden zunehmend emotional geführt und ein rationaler Austausch von Argumenten wird durch persönliche Anfeindungen erschwert. Immer häufiger tritt eine Empörungskultur zu Tage, in der Andersdenkende ausgegrenzt und diffamiert werden, weil sie eine abweichende Meinung vertreten. Auf der »richtigen Seite« zu stehen, zählt heute oft mehr, als unterschiedliche Sichtweisen unvoreingenommen gegeneinander abzuwägen.
Dabei gehört der offene und faire Wettbewerb der Ideen zu den wichtigsten Stützpfeilern einer liberalen Demokratie. Wenn wir den Meinungskorridor und damit die Grenze des Sagbaren zu sehr einengen, würden wir uns nur noch wechselseitig in unseren Ansichten bestärken, statt uns mit alternativen Perspektiven und Lebenswelten auseinanderzusetzen. Den gesellschaftlichen Fortschritt würden wir damit zum Erliegen bringen, da wir niemanden hätten, der uns korrigieren könnte.
Auch wenn es schmerzhaft ist: In einer pluralen Gesellschaft müssen wir es aushalten, dass Menschen zu anderen Überzeugungen gelangen, als wir es tun. Wir müssen ebenso damit leben, dass unsere eigenen Ansichten kritisiert und verworfen werden. Dies erfordert ein hohes Maß an Toleranz, welches wir nur ungern aufbringen. Aber das ist nun einmal der Preis, den wir für eine Gesellschaft zahlen, in der Gedanken- und Meinungsfreiheit nicht nur leere Worthülsen sind.
Offene Debattenräume sind die Voraussetzung für eine konstruktive Streitkultur. Sie gilt es gegen eine fortschreitende »Cancel Culture« zu verteidigen, die unliebsame Positionen delegitimiert und Abweichler an den Rand drängt. Zugleich braucht es aber auch klar definierte Regeln des zivilisierten Widerstreits, um eine Debatte überhaupt rational führen zu können. Ohne sie wäre eine gemeinsame Verständigung zwischen verschiedenen Standpunkten kaum möglich.
Streiten muss gelernt sein
Egal ob Klimawandel, Corona-Pandemie oder Flüchtlingskrise: In Diskussionen über kontroverse Themen kommt eine tiefe Polarisierung der Gesellschaft immer deutlicher zum Vorschein. Öffentliche Diskurse werden häufig von Extrempositionen dominiert, die den Anschein erwecken, dass es bei der Lösung von Problemen nur zwei radikale Alternativen gäbe. Hans Albert hat das Anbieten solcher scheinbar auswegloser Szenarien schon vor 50 Jahren als »Alternativ-Radikalismus« kritisiert. Seine Analyse ist angesichts des vorherrschenden Schwarz- Weiß-Denkens erschreckend aktuell geblieben. Denn sie führt uns vor Augen, wie wichtig eine rationale Streitkultur ist, wenn wir uns die Offenheit für alternative Problemlösungen bewahren wollen.
Damit sich eine solche Kultur des Streitens etablieren kann, müssen gewisse Mindestanforderungen erfüllt sein. Allen Teilnehmern einer Debatte sollte etwa klar sein, dass die Vernunft nicht zwangsläufig bei einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppierung beheimatet ist. Die Güte eines Arguments hängt nämlich nicht davon ab, von wem es geäußert wird, sondern allein davon, ob es rationalen Ansprüchen genügt. Entscheidend ist nicht, ob eine Aussage aus dem linken oder aus dem rechten Lager stammt, sondern ob sie widerspruchsfrei, kritisierbar und problemlösend ist. Wer sich der Rationalität verpflichtet fühlt, nimmt daher Abschied von jedem identitären Denken und ergreift Partei für die Stimme der Vernunft.
Eine produktive Diskussion kann erst dann gelingen, wenn wir unserem Gesprächspartner mit Wohlwollen entgegentreten und grundsätzlich dazu bereit sind, uns überzeugen zu lassen. Persönliche Anfeindungen und Missbilligungen zeigen dagegen nur, dass man kein Vertrauen in die Stärke der eigenen Argumente besitzt und die Position seines Gegenübers nicht ernst nimmt. Respektloses Verhalten untergräbt damit die Grundlage einer rationalen Debatte.
Allerdings sollten wir die kritische Aufgeschlossenheit nicht mit einer naiven Beliebigkeit verwechseln: Schließlich gibt es auch Haltungen, die den Prinzipien der offenen Gesellschaft feindlich gegenüberstehen. Insbesondere extremistischen und totalitären Einstellungen sollten wir keine Toleranz entgegenbringen, da wir sonst in Gefahr geraten, unsere eigene Freiheit abzuschaffen.
Wie man Rationalität trainieren kann
Es ist nicht leicht, rational zu sein. Aber man kann diese Fähigkeit trainieren. Hilfreich ist dabei, sich die folgenden einfachen Handlungsaufforderungen bewusst zu machen:
Sei bescheiden! Jeder Mensch unterliegt kognitiven Verzerrungen und ist anfällig für Irrtümer – auch du und ich.
Sei kritisch! Jedes Wissen ist vorläufig und muss sich strengen Prüfungen unterziehen, um sich zu bewähren. Beleuchte Aussagen auf ihre Widerspruchsfreiheit, Kritisierbarkeit und empirische Qualität.
Sei offen! Andere Ansichten helfen uns dabei, unser eigenes Denken zu erweitern. Verstehe ehrlich gemeinte Kritik daher nicht als Belästigung, sondern als Geschenk, das dir dabei helfen kann, dich von deinen Irrtümern zu befreien.
Sei unvoreingenommen! Ob eine Aussage richtig oder falsch ist, hängt nicht davon ab, wer sie äußert. Eine dir im höchsten Maße unsympathische Person kann richtige Argumente vorbringen und eine dir sympathische Person mit ihren Argumenten völlig daneben liegen.
Sei nachsichtig! Für niemanden ist es einfach, rational zu sein. Vermutlich würdest auch du irrational argumentieren, wenn du ähnliche Erfahrungen gemacht hättest wie diejenigen, die du nun kritisierst.
Sei engagiert! Eine rationale Politik ist nur in einer offenen Gesellschaft möglich. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, sie gegen ihre totalitären Feinde zu verteidigen.
Sei wohlwollend! Ein produktiver Austausch der Ideen ist nur dann möglich, wenn wir unsere Gesprächspartner ernst nehmen. Versuche, die Ideen Andersdenkender zunächst einmal bestmöglich zu verstehen, bevor du sie kritisierst.
Sei entspannt! Nicht alles im Leben richtet sich nach rationalen Maßstäben. Manchmal muss man alle Fünfe gerade sein lassen, obwohl die Mathematik etwas anderes verlangt. Wichtig ist jedoch, auf Rationalität überall dort zu pochen, wo etwas auf dem Spiel steht – vor allem in der Politik.
Zum Weiterlesen
Hans Albert
Traktat über kritische Vernunft
Mohr Siebeck (1968/1991)
Michael Schmidt-Salomon
Die Grenzen der Toleranz — Waurm wir die offene Gesellschaft verteidigen müssen
Piper (2016)
Tobias Wolfram / Felix Urban / Michael Tezak / Johannes Kurzbuch
Produktives Streiten — Auswege aus einer defizitären Debattenkultur
Alibri (2020)
Impressum
© Hans-Albert-Institut / Giordano-Bruno-Stiftung 2020
Redaktion: Jonas Pöld, Florian Chefai (V.i.S.d.P.), Sophie Strobl, Michael Schmidt-Salomon, Felix Bölter
Lektorat: Luisa Lenneper, Helmut Fink
Layout: Saskia Zillekens
FOTOS: COTTONBRO, PEXELS.COM / JUSTIN BUISSON, UNSPLASH.COM / ANNA SHVETS, PEXELS.COM / THIAGO MATOS, PEXELS.COM / NASA / MATHEUS BERTELLI, PEXELS.COM / SUZY HAZELWOOD, PEXELS.COM / SKITTERPHOTO, PEXELS.COM / NBC TELEVISION / NASA / FRANCESCO UNGARO, PEXELS.COM / PRATIK GUPTA PEXELS.COM / ALEXANDROS CHATZIDIMOS, PEXELS.COM / FABIO BRACHT, UNSPLASH.COM