Hans-Albert-Institut

INTERVIEW MIT ADRIANO MANNINO • 28.05.2020

Philosophie in der Krise:
“Wir sollten auf Vorrat denken”

Wie ist rationales Handeln in der Corona-Krise möglich? Die Philosophen Nikil Mukerji (HAI-Beirat) und Adriano Mannino schreiben im neuen SPIEGEL-Bestseller über „Philosophie in Echtzeit“ und „Katastrophenethik“. Im Interview erklärt Mannino, was es damit auf sich hat.

Vor weni­gen Tagen ist euer Buch „Covid-19: Was in der Kri­se zählt. Über Phi­lo­so­phie in Echt­zeit“ bei Reclam erschie­nen. Ihr seid bei­de kei­ne Viro­lo­gen oder Epi­de­mio­lo­gen, son­dern Phi­lo­so­phen. Was kann die Phi­lo­so­phie in der der­zei­ti­gen Kri­se zur Pro­blem­lö­sung beitragen?

In der Kri­se hat sich schnell gezeigt, dass die Viro­lo­gie und Epi­de­mio­lo­gie bei Wei­tem nicht die ein­zi­gen Dis­zi­pli­nen sind, die etwas zu sagen haben. Es braucht eine inter­dis­zi­pli­nä­re Aus­ein­an­der­set­zung, die alle rele­van­ten Aspek­te aus unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven beleuch­tet. Öko­no­men beschäf­ti­gen sich etwa mit den wirt­schaft­li­chen Kon­se­quen­zen eines Shut­downs, Juris­ten mit der Zuläs­sig­keit von Grund­rechts­ein­schrän­kun­gen und Sozio­lo­gen mit den sozia­len Kon­se­quen­zen der Pan­de­mie. Auch die Phi­lo­so­phie kann und muss einen Bei­trag leis­ten, unter ande­rem weil sie Ant­wor­ten auf die Fra­ge nach der ratio­na­len und ethisch ver­tret­ba­ren Ent­schei­dung unter Bedin­gun­gen der Unsi­cher­heit und des Unwis­sens anbie­tet. Die­se Fra­ge ist Gegen­stand phi­lo­so­phi­scher Dis­zi­pli­nen wie der Erkennt­nis- und Wis­sen­schafts­theo­rie, der Ent­schei­dungs­theo­rie sowie der Risikoethik.

In eurem Buch ist von einer „Phi­lo­so­phie in Echt­zeit“ die Rede. Was meint ihr damit und war­um ist sie gera­de in der Coro­na-Kri­se notwendig?

Ange­sichts der Dring­lich­keit der Pro­ble­me ste­hen wir gegen­wär­tig unter Ent­schei­dungs­zwang und kön­nen uns nicht den Luxus leis­ten, so lan­ge zu war­ten, bis gesi­cher­tes Wis­sen vor­liegt. Wir müs­sen Daten und Argu­men­te unter Dead­line­druck ver­ar­bei­ten, weil Hand­lungs­ent­schei­dun­gen not­ge­drun­gen vor einem bestimm­ten Zeit­punkt getrof­fen wer­den müs­sen. Es besteht daher ein Vor­rang der Pra­xis. Dabei müs­sen wir auch dann mit den bes­ten ver­füg­ba­ren Infor­ma­tio­nen arbei­ten, wenn sie weni­ger ver­läss­lich sind, als wir dies unter nor­ma­len Umstän­den akzep­tie­ren wür­den. Die For­schungs­la­ge ändert sich in rasan­tem Tem­po, was eine Anpas­sung unse­res Den­kens und Han­delns erfor­dert. „Phi­lo­so­phie in Echt­zeit“ ist bestrebt, die­sem dyna­mi­schen Pro­zess und den bevor­ste­hen­den Dead­lines gerecht zu wer­den. Im letz­ten Kapi­tel des Buches stel­len wir „zehn Gebo­te“ für das Phi­lo­so­phie­ren in Echt­zeit zusammen.

Web­sei­te zum Buch „Covid-19: Was in der Kri­se zählt. Über Phi­lo­so­phie in Echt­zeit“: www.katastrophenethik.de.

Phi­lo­so­phi­sches Arbei­ten benö­tigt nor­ma­ler­wei­se Zeit zum Nach­den­ken. Steht eine Phi­lo­so­phie in Echt­zeit nicht in Gefahr, nach­läs­sig zu sein und wich­ti­ge Aspek­te aus­zu­blen­den?

In der Tat soll­te Phi­lo­so­phie in Echt­zeit mög­lichst ver­mie­den wer­den – das ist eines der zehn Gebo­te. Es ist sehr viel bes­ser, auf Vor­rat zu den­ken und nicht zu war­ten, bis ein Kata­stro­phen­ri­si­ko zuge­schla­gen hat. Das Den­ken auf Vor­rat ist sozu­sa­gen ein phi­lo­so­phi­scher Hams­ter­kauf, mit dem man sich für schlech­te Zei­ten absi­chert. Wenn man das Den­ken auf Vor­rat aber ver­säumt hat, muss man Pro­ble­me zwangs­läu­fig hart prio­ri­sie­ren und büßt an Frei­heit ein, die eige­nen For­schungs­fra­gen nach Lust und Lau­ne zu wäh­len. Wir spre­chen in die­sem Zusam­men­hang auch von einer „kogni­ti­ven Tria­ge“, in Anleh­nung an die Tria­ge in der Not­fall­me­di­zin. Wir müs­sen uns fra­gen, wel­che offe­nen Fra­gen beson­ders drän­gend sind und wel­che war­ten müssen.

Eine wich­ti­ge Eigen­schaft guter Phi­lo­so­phie in Echt­zeit, so schreibt ihr im Buch, sei die „kogni­ti­ve Arbeits­tei­lung“. Nie­mand kann sich in der gebo­te­nen Eile allen Pro­ble­men wid­men. Das heißt natür­lich, dass wir bestimm­ten Exper­tin­nen und Exper­ten bis zu einem gewis­sen Grad ver­trau­en müs­sen. Nun ver­tre­ten aber nicht alle Exper­tin­nen und Exper­ten die­sel­ben Ansich­ten, son­dern wider­spre­chen sich in vie­len Punk­ten. Wie kön­nen wir beur­tei­len, wem von ihnen zu ver­trau­en ist?

In der Regel ist es zunächst ein­mal sinn­voll, der Mehr­heit der Exper­ten­ge­mein­schaft zu fol­gen, da sie sta­tis­tisch zuver­läs­si­ger urteilt. Unser Ver­trau­en in die Mehr­heits­mei­nung der Exper­ten soll­te aber nicht abso­lut sein, son­dern ein Wahr­schein­lich­keits­ur­teil dar­stel­len. Schließ­lich macht es einen Unter­schied, ob nahe­zu alle Exper­ten eine Ansicht ver­tre­ten oder bloß eine gerin­ge Mehr­heit. Damit ist aber die Fra­ge noch nicht geklärt, auf wes­sen Mei­nung wir uns in unse­rem Han­deln stüt­zen soll­ten. Hier kom­men die Ent­schei­dungs­theo­rie und die Risi­ko­ethik ins Spiel. Wir müs­sen uns näm­lich fra­gen, wie schlimm es wäre, wenn sich eine Exper­ten­grup­pe irren soll­te, und ob wir ein sol­ches Sze­na­rio ver­ant­wor­ten kön­nen. Bei umstrit­te­nen The­men kann es daher durch­aus ver­nünf­tig sein, der Mehr­heit von Exper­ten Glau­ben zu schen­ken, zugleich aber auf Num­mer sicher zu gehen und im prak­ti­schen Han­deln einer Min­der­heit pes­si­mis­ti­scher Exper­ten zu fol­gen. „Pes­si­mis­tisch“ bedeu­tet hier, dass die ent­spre­chen­den Exper­ten ein Kata­stro­phen­sze­na­rio vor­her­sa­gen, wenn wir nicht han­deln. Wir zei­gen im Buch auf, dass der Shut­down wahr­schein­lich ver­meid­bar gewe­sen wäre, wenn wir uns an die­sem Prin­zip – „Fol­ge der Exper­ten­min­der­heit, wenn sie pes­si­mis­tisch ist“ – ori­en­tiert hätten.

Um ratio­nal und ver­ant­wor­tungs­voll ent­schei­den zu kön­nen, müs­sen wir die Kon­se­quen­zen unse­rer Ent­schei­dun­gen ken­nen. Ist dies in der Kri­se über­haupt mög­lich, wenn sich die For­schungs­la­ge stän­dig ändert und die Kon­se­quen­zen unse­rer Hand­lun­gen unge­wiss sind?

Das ist tat­säch­lich ein schwer­wie­gen­des Pro­blem. Wenn die Unge­wiss­heit umfas­send ist, kann man sich oft nur an Heu­ris­ti­ken ori­en­tie­ren. In vie­len Fäl­len ist aber den­noch erkenn­bar, wel­che Optio­nen vor­zu­zie­hen sind, weil Risi­ken ungleich ver­teilt sind. Ent­schei­dend ist ins­be­son­de­re, wor­auf wir wet­ten wür­den, wenn kata­stro­pha­le Worst-Case-Sze­na­ri­en nicht aus­ge­schlos­sen wer­den können.

Das wird bei­spiels­wei­se deut­lich, wenn wir auf den Anfang der Pan­de­mie zurück­bli­cken: Nach­dem die chi­ne­si­sche Pro­vinz Hub­ei mili­tä­risch abge­rie­gelt wor­den war, hät­te klar sein müs­sen, dass die Gefah­ren­la­ge auch für uns wahr­schein­lich sehr real ist. Man muss­te zu allem Übel auch mit der Mög­lich­keit rech­nen, dass die chi­ne­si­sche Staats­pro­pa­gan­da die Opfer­zah­len mas­siv schönt. Die tra­gi­sche Fall­stu­die Nord­ita­li­ens, die Euro­pa am Ende wach­ge­rüt­telt hat, wäre nicht not­wen­dig gewe­sen – Chi­na hät­te genü­gen müs­sen. Man wuss­te, dass die Welt so glo­ba­li­siert und ver­netzt ist wie nie­mals zuvor, und dass ein Virus bin­nen weni­ger Stun­den um die gan­ze Welt rei­sen kann. Man hät­te daher zumin­dest den Flug­ver­kehr aus Chi­na stop­pen und den Mas­ken­vor­rat sofort über­prü­fen sol­len. Gesund­heits­mi­nis­ter Spahn mein­te, es sei nicht abseh­bar gewe­sen, dass die Mas­ken als Cent­pro­dukt „plötz­lich so teu­er“ wer­den könn­ten. Was glaub­te man denn, wür­de wäh­rend einer Pan­de­mie am Mas­ken­markt gesche­hen? Schon vor Jah­ren wäre es auch sinn­voll gewe­sen, Tra­cing-Apps zu ent­wi­ckeln und Stra­te­gien zum Hoch­fah­ren der Test­ka­pa­zi­tä­ten fest­zu­le­gen. Wäh­rend in west­li­chen Län­dern wei­ter ver­harm­lost wur­de, hat­te man bei­spiels­wei­se in Süd­ko­rea und Tai­wan die­ses effek­ti­ve und ver­gleichs­wei­se güns­ti­ge Maß­nah­men­pa­ket längst umge­setzt. Anders als hier war in Süd­ko­rea und Tai­wan des­we­gen bis heu­te kein Shut­down not­wen­dig. Seit Beginn der Pan­de­mie gab es in Süd­ko­rea weni­ger als 12.000 bestä­tig­te Coro­na-Fäl­le, in Tai­wan sind es kei­ne 500.

Bezeich­nend ist natür­lich auch, dass die Abtei­lung für Gesund­heits­si­cher­heit im Gesund­heits­mi­nis­te­ri­um gera­de erst ad hoc geschaf­fen wur­de. Eine sol­che Abtei­lung wür­de man sich seit Jahr­zehn­ten an der Arbeit wün­schen. Das wirft die unan­ge­neh­me Fra­ge auf: In wie vie­len ande­ren Berei­chen feh­len Sicher­heits­ab­tei­lun­gen? Am Solon Cen­ter for Poli­cy Inno­va­ti­on der Par­men­i­des Stif­tung unter­su­chen wir sol­che Fra­gen systematisch.

Im Rück­blick weiß man natür­lich vie­les besser…

Vie­le wuss­ten es auch vor­aus­bli­ckend durch­aus bes­ser. Dazu gehö­ren etwa Bill Gates, Nas­sim Taleb oder die gan­ze ost­asia­ti­sche epi­de­mio­lo­gi­sche Exper­ten­com­mu­ni­ty, der wir hät­ten fol­gen sollen.

Doch dür­fen wir solch dras­ti­sche Maß­nah­men wie einen Shut­down ver­an­las­sen, wenn wir ihre Not­wen­dig­keit nicht mit Gewiss­heit begrün­den kön­nen? Immer­hin sind enor­me Kos­ten und auch Exis­ten­zen damit verbunden.

Die Maß­nah­men ergrei­fen wir nicht des­halb, weil wir uns sicher sind, son­dern gera­de weil wir Ent­schei­dun­gen unter Unge­wiss­heit fäl­len müs­sen. Wir sehen, dass wir unter­schied­li­che Hand­lungs­op­tio­nen haben, die mehr oder weni­ger ris­kant sind. Da Vor­sicht bes­ser ist als Nach­sicht, ver­su­chen wir die Risi­ken mög­lichst zu mini­mie­ren. Unver­ant­wort­lich wäre es dage­gen, mit dem Feu­er zu spie­len und den Tod hun­dert­tau­sen­der Men­schen in Kauf zu neh­men, der bei einer Durch­seu­chung der Gesell­schaft resul­tie­ren könn­te. Selbst wenn sich im Rück­blick her­aus­stel­len wür­de, dass die­se Pan­de­mie nicht so gefähr­lich war, wären die Prä­ven­ti­ons­maß­nah­men und ein früh­zei­ti­ger Shut­down also gerecht­fer­tigt gewesen.

Der Shut­down war ins­be­son­de­re auch des­halb die ein­zig rich­ti­ge Wahl, weil nur er eine rever­si­ble Stra­te­gie dar­stellt. Wenn man die Ver­brei­tung des Virus nicht hin­rei­chend schnell bremst, läuft man Gefahr, sich unum­kehr­bar auf eine Durch­seu­chung fest­zu­le­gen. Ein Shut­down kann gelo­ckert und auf­ge­ho­ben wer­den, eine expo­nen­ti­el­le Durch­seu­chung nicht. Risi­koe­thisch ist der Shut­down als rever­si­ble Stra­te­gie daher über­le­gen. Nur rever­si­ble Stra­te­gien ermög­li­chen es, began­ge­ne Feh­ler zu kor­ri­gie­ren und unser Han­deln an den neu­en Kennt­nis­stand anzu­pas­sen. Eine sol­che kri­tisch-ratio­na­le Hal­tung, wel­che die prin­zi­pi­el­le Fehl­bar­keit unse­rer Ent­schei­dun­gen berück­sich­tigt, hät­te von Sei­ten der wis­sen­schaft­li­chen Exper­ten und der Poli­tik auch viel kla­rer kom­mu­ni­ziert wer­den müs­sen. Damit hät­te man auch jenem Nähr­bo­den Was­ser abge­gra­ben, auf dem der­zeit Coro­na-Ver­harm­lo­sun­gen und Ver­schwö­rungs­theo­rien gedei­hen.

Was die wirt­schaft­li­chen Fol­gen des Shut­downs betrifft, wird oft igno­riert, wie schlimm sich eine Durch­seu­chung auch wirt­schaft­lich aus­wir­ken kann. In Schwe­den bei­spiels­wei­se sind die öko­no­mi­schen Schä­den auch mas­siv, weil sich vie­le Men­schen frei­wil­lig an Shut­down-Maß­nah­men hal­ten. Aber das Land hat unnö­tig vie­le Todes­op­fer zu ver­zeich­nen und ist ein gro­ßes, ange­sichts des Unwis­sens über das Aus­maß der Gefahr kaum ver­tret­ba­res Risi­ko ein­ge­gan­gen. Auch vom Ziel der Her­den­im­mu­ni­tät ist man in Schwe­den noch weit ent­fernt. Wenn es ein Land nicht schafft, das Virus ein­zu­däm­men, wird gera­de das den Kon­sum sei­ner Ein­woh­ner nach­hal­tig dämp­fen. Bei vie­len Kon­sum­ak­ti­vi­tä­ten geht man jedes Mal ein gewis­ses Risi­ko ein, wenn das Virus nicht ein­ge­dämmt ist. Unter­neh­men wer­den sich über­le­gen, ihre Stand­or­te in Län­der zu ver­schie­ben, die das Virus wirk­lich besiegt haben. Es ist kurz­sich­tig, nur die Coro­na-Todes­ri­si­ken in den Blick zu neh­men, die für jün­ge­re Men­schen rela­tiv gering sind. Auch Krank­heits­ri­si­ken – bei stär­ke­ren Ver­läu­fen fällt man ein, zwei Mona­te aus – ent­fal­ten als öko­no­mi­scher Nega­tiv­an­reiz eine erheb­li­che Wir­kung. Es wird unter­schätzt, wie sehr der öffent­li­che Raum und die Wirt­schaft davon abhän­gen, dass kei­ne Seu­chen­ge­fahr besteht.

Wegen der Pan­de­mie wird mit einer tie­fen und lang­an­hal­ten­den Rezes­si­on der Welt­wirt­schaft gerech­net. Auch dadurch ste­hen hun­dert­tau­sen­de Men­schen­le­ben auf dem Spiel. Müss­te eine umsich­ti­ge Risi­ko­ethik nicht auch ein öko­no­mi­sches Worst-Case-Sze­na­rio in den Blick neh­men und in poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen ein­be­zie­hen?

Doch, abso­lut. Wir argu­men­tie­ren im Buch vor allem für die fol­gen­de The­se: Hät­ten wir das pan­de­mi­sche Kata­stro­phen­ri­si­ko ernst genom­men und wären wir vor­be­rei­tet gewe­sen, hät­ten Staa­ten sowohl die Über­las­tung der Inten­siv­sta­tio­nen als auch den Shut­down – und damit das öko­no­mi­sche Kata­stro­phen­ri­si­ko – ver­mei­den kön­nen. Län­der wie Süd­ko­rea, Tai­wan oder Japan bewei­sen, dass das in der Tat mög­lich war.  Wir hät­ten vor der Kata­stro­phe tätig wer­den müs­sen. Denn wenn eine Kata­stro­phe ein­tritt, hat man oft nur noch schlech­te Optio­nen, die alle­samt mit erheb­li­chen Risi­ken behaf­tet sind.

Den­noch scheint uns, dass der tem­po­rä­re Shut­down – zur Ver­mei­dung einer irrever­si­blen Durch­seu­chung der Gesell­schaft – risi­koe­thisch klar das gerin­ge­re Übel war. Die empi­ri­schen Daten schlie­ßen eine Todes­ra­te des Virus von 1 Pro­zent nicht aus aus, vie­le inter­na­tio­na­le Exper­ten geben mitt­le­re Schät­zun­gen von rund 0,5 Pro­zent ab. Die Heins­berg-Stu­die kam auf 0,37 Pro­zent, ist aber mit gewis­sen metho­di­schen Pro­ble­men behaf­tet. Doch rech­nen wir mit den 0,37 bzw. 0,4 Pro­zent: Bis zur Her­den­im­mu­ni­tät müss­ten sich in Deutsch­land ver­mut­lich über 50 Mil­lio­nen Men­schen infi­zie­ren, sodass eine Durch­seu­chung allein hier­zu­lan­de über 200.000 Tote zur Fol­ge hät­te, im Fal­le einer Todes­ra­te von 1 Pro­zent sogar 500.000. Sobald die Kapa­zi­täts­gren­ze der Inten­siv­sta­tio­nen erreicht ist, gleicht sich die Todes­ra­te zudem der inten­si­ven Hos­pi­ta­li­sie­rungs­ra­te an, die bei 2 Pro­zent lie­gen könn­te. Das wur­de oft igno­riert: Die Todes­ra­te ist kei­ne fixe Grö­ße, son­dern steigt sprung­haft an, sobald die Inten­siv­sta­tio­nen über­las­tet sind und alle wei­te­ren Pati­en­ten abwei­sen müssen. 

Auch ver­nach­läs­sigt wer­den die mög­li­chen Fol­ge­schä­den der Krank­heit. Die Risi­ko­dis­kus­si­on wird oft ver­engt auf die Mor­ta­li­täts­ri­si­ken, aber die Mor­bi­di­täts­ri­si­ken sind genau­so rele­vant. Stu­di­en legen zum Bei­spiel nahe, dass mehr als 10 Pro­zent der Sars-1-Über­le­ben­den von 2003 phy­si­sche oder psy­chi­sche Lang­zeit­er­kran­kun­gen davon­ge­tra­gen haben, etwa ein chro­ni­sches Erschöp­fungs­syn­drom. Wenn man annimmt, dass Sars‑1 rund 10-mal töd­li­cher und schäd­li­cher war als das aktu­el­le Sars‑2, erge­ben sich immer noch 1 Pro­zent, die danach chro­nisch krank wären. Das sind zusätz­li­che 500.000 Per­so­nen – eine mensch­li­che, aber auch eine öko­no­mi­sche Kata­stro­phe. Wer an Erkran­kun­gen wie dem chro­ni­schen Erschöp­fungs­syn­drom lei­det, fällt beruf­lich oft per­ma­nent aus. 

Im Ver­gleich dazu schei­nen die Risi­ken einer Rezes­si­on viel eher ver­ant­wort­bar, zumin­dest in rei­chen Län­dern. Doch was ist mit den Todes­op­fern, die in Ent­wick­lungs­län­dern resul­tie­ren könn­ten? Wer so argu­men­tiert, müss­te unab­hän­gig von der Coro­na-Kri­se zum Bei­spiel gefragt haben: War­um strei­chen wir den Sozi­al­staat in rei­chen Län­dern nicht zusam­men und unter­stüt­zen mit den frei wer­den­den Res­sour­cen die ärms­ten Län­der? Tun wir das nicht, resul­tie­ren in den Ent­wick­lungs­län­dern auch vie­le Tote. Aber wir prio­ri­sie­ren unse­re eige­ne Gesell­schaft aus gutem Grund: Wenn wir selbst in schwe­re Kri­sen gera­ten, kön­nen wir ande­ren Län­dern nicht mehr hel­fen. Und selbst wenn wir wei­ter­hin hel­fen könn­ten, so wäre der poli­ti­sche Wil­le dafür nicht mehr vor­han­den. Zudem schul­den wir unse­ren Mit­bür­gern – als Mit­glie­dern einer beson­ders engen Koope­ra­ti­ons­ge­mein­schaft – mehr als den Bewoh­nern von Ent­wick­lungs­län­dern, auch wenn jedes Men­schen­le­ben an sich gleich zählt.

Nicht nur Lai­en, son­dern auch Exper­ten haben die Gefahr der Pan­de­mie anfangs nicht ernst genom­men. Wor­an liegt das?

Den Lai­en fehlt oft das grund­le­gen­de Wis­sen über epi­de­mi­sche Vor­gän­ge und die damit ver­bun­de­nen Risi­ken. Nur weni­ge von ihnen dürf­ten etwa von dem Aus­maß der Spa­ni­schen Grip­pe gehört haben, die zwi­schen 1918 und 1920 bis zu 100 Mil­lio­nen Todes­op­fer for­der­te. Zum Ver­gleich: Die­se Zahl über­steigt die Zahl der mili­tä­ri­schen Opfer des Ers­ten Welt­kriegs um das Vier- bis Fünf­fa­che. Trotz­dem ist die­se Kata­stro­phe nicht wirk­lich in das Gedächt­nis der Mensch­heit ein­ge­drun­gen. Man­geln­de his­to­ri­sche Bil­dung kann damit auch zu einer Unter­schät­zung gegen­wär­ti­ger Bedro­hungs­la­gen füh­ren. Die Geschichts­wis­sen­schaft und der Geschichts­un­ter­richt soll­ten in Betracht zie­hen, dem Defi­zit an „Kata­stro­phen­wis­sen“ entgegenzuwirken.

Anders ver­hält es sich bei den Viro­lo­gen und Epi­de­mio­lo­gen. Natür­lich wis­sen sie über die Gefah­ren von Viren und Pan­de­mien bes­tens Bescheid. Den­noch haben sich auch eini­ge von ihnen anfangs mas­siv geirrt. Der Bon­ner Viro­lo­ge Hen­drik Stre­eck etwa mein­te Ende Janu­ar, das neue Coro­na­vi­rus sei „bei Wei­tem nicht gefähr­li­cher als die Grip­pe“. Auch der Cha­ri­té-Viro­lo­ge Chris­ti­an Dros­ten, des­sen Prä­senz und Auf­klä­rungs­ar­beit ich all­ge­mein sehr schät­ze, hat die Gefahr ver­kannt, wenn auch weni­ger krass. Noch Ende Febru­ar sag­te er, dass es ver­mut­lich unpro­ble­ma­tisch sein wür­de, im April nach Ita­li­en zu rei­sen. Das­sel­be erklär­te der Schwei­zer Epi­de­mio­lo­ge und gegen­wär­ti­ge Regie­rungs­be­ra­ter Mar­cel Sala­thé am 28. Febru­ar gegen­über dem Online-Maga­zin “Repu­blik”. Er mein­te, er sehe sei­ner geplan­ten Ita­li­en­rei­se im April „rela­xed“ ent­ge­gen. Nur weni­ge Tage spä­ter befand sich Nord­ita­li­en im Aus­nah­me­zu­stand. Die Inten­siv­me­di­zi­ner berich­te­ten, es müs­se tria­giert wer­den “wie im Krieg”. Vie­le Pati­en­ten erhiel­ten kei­ne medi­zi­ni­sche Betreu­ung mehr, da die Kapa­zi­tä­ten erschöpft waren – nicht weni­ge star­ben zuhau­se einen qual­vol­len Erstickungstod.

Wie kann es zu sol­chen Fehl­ein­schät­zun­gen kommen?

Einer­seits lie­gen sie wohl dar­in begrün­det, dass für hand­lungs­re­le­van­te Ein­schät­zun­gen wie „Ita­li­en­rei­sen sind unpro­ble­ma­tisch“ eben nicht nur epi­de­mio­lo­gi­sche, son­dern auch risi­koe­thi­sche Sach­ver­hal­te eine Rol­le spie­len. Ande­rer­seits aber kann man auf die Psy­cho­lo­gie zurück­grei­fen, um typi­sche kogni­ti­ve Ver­zer­run­gen zu erklä­ren, denen auch Exper­ten unter­lie­gen. Ihnen man­gelt es ja gewiss nicht an fach­li­cher Exper­ti­se. Eine ande­re Sache ist es aber, die­ses Wis­sen auch intui­tiv und emo­tio­nal kor­rekt zu erfas­sen und in ange­mes­se­ne Hand­lun­gen zu über­set­zen. Aus evo­lu­tio­nä­ren Grün­den sind unse­re Gehir­ne zum Bei­spiel nicht dar­auf aus­ge­legt, die Dyna­mik expo­nen­ti­el­ler Wachs­tums­pro­zes­se kor­rekt wahr­zu­neh­men. Statt­des­sen den­ken wir intui­tiv in linea­ren Bewe­gun­gen, was zur gro­ben Model­lie­rung unse­rer stein­zeit­li­chen Lebens­welt aus­reich­te. Die Kogni­ti­ons­psy­cho­lo­gie hat gezeigt, dass Exper­ten hier nicht sel­ten den­sel­ben intui­ti­ven Trug­schlüs­sen auf­sit­zen wie Lai­en und sich des­sen häu­fig eben­so wenig bewusst sind.

Gera­de bei wis­sen­schaft­lich ori­en­tier­ten Men­schen ist zudem oft auch eine Angst vor der Angst zu beob­ach­ten. Natür­lich gibt es irra­tio­na­le For­men der Panik, die den kla­ren Blick auf die Welt ver­sper­ren und einen der Hand­lungs­kon­trol­le berau­ben. Eben­so gibt es aber auch die ver­nünf­ti­ge Panik, die evo­lu­tio­när in uns ange­legt ist und vor rea­len Bedro­hun­gen schützt. Ein Tier, das in der Natur kei­ne Panik emp­fin­den könn­te, wäre sehr schnell ein totes Tier. Die Spe­zi­es Homo Sapi­ens ist davon natür­lich nicht aus­ge­nom­men. Kon­trol­lier­te Panik, die uns schnell und ent­schlos­sen han­deln lässt, kann lebens­ret­tend sein. Jedes Angst­ge­fühl gleich als irra­tio­nal zu ver­dam­men, wie es man­che Risiko­p­sy­cho­lo­gen und Ver­hal­tens­öko­no­men ger­ne tun, hilft bei der sach­li­chen Ein­schät­zung einer Gefah­ren­la­ge nicht wei­ter. Dass es Men­schen in vie­len Fäl­len schwer fällt, Risi­ken adäquat ein­zu­schät­zen, sagt näm­lich nichts über die tat­säch­li­che Gefahr aus, die etwa im gegen­wär­ti­gen Pan­de­mie­fall besteht. Den­noch haben sich vie­le pro­mi­nen­te Risiko­p­sy­cho­lo­gen und Ver­hal­tens­öko­no­men im Febru­ar und März die­ses Jah­res mit der The­se her­vor­ge­tan, die Men­schen hät­ten unbe­grün­de­te Panik vor einem neu­en Grippevirus.

Nicht zuletzt fehlt es ins­be­son­de­re den west­li­chen Gesell­schaf­ten an rele­van­tem Erfah­rungs­wis­sen und an der Bereit­schaft, von ande­ren Gesell­schaf­ten zu ler­nen. Gefähr­li­che Epi­de­mien waren bis vor Kur­zem schlicht nicht Teil unse­rer Lebens­welt. Daher wähnt man sich in einer Sicher­heit, die nicht gege­ben ist. Lothar Wie­ler, der Prä­si­dent des Robert-Koch-Insti­tuts, sag­te Ende März an einer Pres­se­kon­fe­renz: „Wir alle sind in einer Kri­se, die ein Aus­maß hat, das ich mir sel­ber nie hät­te vor­stel­len kön­nen.“ So erging es wohl vie­len. Ver­mut­lich spielt dies­be­züg­lich auch eine gewis­se kul­tu­rel­le Über­heb­lich­keit eine Rol­le. Nach dem Mot­to: “Was kann uns im sichers­ten und wirt­schafts­stärks­ten Land Euro­pas schon pas­sie­ren?” Selbst als in Ita­li­en der Kata­stro­phen­fall ein­trat, woll­te man den Ernst der Lage in Deutsch­land und in der Schweiz zunächst nicht wahr­ha­ben. Es dau­er­te meh­re­re Tage, bis die erschüt­tern­den Tria­ge-Berich­te ita­lie­ni­scher Inten­siv­me­di­zi­ner in der deut­schen Öffent­lich­keit wahr­ge­nom­men wur­den. Ita­lie­ni­sche Füh­rungs­kräf­te und Jour­na­lis­ten, zu denen ich als hal­ber Ita­lie­ner guten Zugang habe, hat­ten tage­lang ver­zwei­felt und ver­geb­lich ver­sucht, die deut­sche Öffent­lich­keit wach­zu­rüt­teln. Ich bin immer noch scho­ckiert, wie schlecht die Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen den euro­päi­schen Öffent­lich­kei­ten funk­tio­niert hat. In einem geein­ten Euro­pa muss man sich in Echt­zeit zuhö­ren und ant­wor­ten können.

Ange­nom­men es stellt sich rück­bli­ckend her­aus, dass die Coro­na-Pan­de­mie uner­war­tet glimpf­lich ver­lau­fen ist. Wür­de dies nicht das Ver­trau­en in öffent­li­che Insti­tu­tio­nen erschüt­tern, was risi­koe­thisch eben­so berück­sich­tigt wer­den müsste?

Ja, es könn­te durch­aus sein, dass Tei­le der Gesell­schaft dann Vor­wür­fe erhe­ben. Das ist das „Para­do­xon der Prä­ven­ti­on“: Man sieht nicht die Schä­den, die wegen erfolg­rei­cher Maß­nah­men aus­ge­blie­ben sind. Zu wel­chen Kurz­schlüs­sen das füh­ren kann, erle­ben wir schon jetzt bei den soge­nann­ten „Coro­na-Rebel­len“, die jede noch so ver­nünf­ti­ge Regel als Bevor­mun­dung und unbe­grün­de­te Panik­ma­che abtun. Dabei soll­ten sie eigent­lich glück­lich sein, in einem Gemein­we­sen leben zu dür­fen, das den Schutz sei­ner Mit­glie­der oben anstellt und nicht fahr­läs­sig Men­schen­le­ben gefährdet.

Klar ist auch: Bei einem, sagen wir, zehn­pro­zen­ti­gen Risi­ko für einen Kata­stro­phen­fall wären Prä­ven­ti­ons­maß­nah­men sta­tis­tisch in neun von zehn Fäl­len „umsonst“ gewe­sen. Das heißt aber kei­nes­wegs, dass wir sie nicht hät­ten ergrei­fen sol­len. Denn wer möch­te ernst­haft in einer Gesell­schaft leben, in der kol­lek­tiv rus­si­sches Rou­lette gespielt wird? Ent­lang die­ser Lini­en müss­te erklärt wer­den, dass es kei­nen Grund gibt, den öffent­li­chen Insti­tu­tio­nen oder der Wis­sen­schaft das Ver­trau­en zu ent­zie­hen, selbst wenn sich Prä­ven­ti­ons­maß­nah­men im kon­kre­ten Fall als unnö­tig erwei­sen. Im Fall von Covid-19 legen die aktu­el­len Daten aber nahe, dass die Prä­ven­ti­ons­maß­nah­men wich­tig waren und noch bedeu­tend frü­her hät­ten ergrif­fen wer­den sollen.

Zum Schluss noch ein Blick nach vor­ne: Wie sieht eurer Mei­nung nach ein ethisch ver­tret­ba­rer Weg aus dem Shut­down aus?

Wir unter­schei­den drei Stra­te­gien, die einen Weg aus dem Shut­down wei­sen könn­ten. Zum einen wäre es mit einem Delay (Ver­zö­ge­rung) mög­lich, die Infek­ti­ons­kur­ve über einen sehr lan­gen Zeit­raum abzu­fla­chen, damit das Gesund­heits­sys­tem nicht über­las­tet wird. Die zwei­te Stra­te­gie ist das Con­tain­ment (Ein­däm­mung), des­sen Ziel es ist, die effek­ti­ve Repro­duk­ti­ons­zahl des Virus durch geeig­ne­te Maß­nah­men auf einen Wert unter 1 zu sen­ken, um die Epi­de­mie ein­zu­däm­men und im Ide­al­fall gänz­lich zu stop­pen. Schließ­lich könn­ten drit­tens mit einem Cocoo­ning (Ein­ige­lung) die Hoch­ri­si­ko­grup­pen best­mög­lich vor Infek­ti­ons­ri­si­ken geschützt wer­den, wäh­rend die Gesell­schaft ansons­ten weit­ge­hend nor­mal funktioniert.

Alle drei Stra­te­gien sind mit Vor- und Nach­tei­len ver­bun­den. Wir schla­gen vor, das Bes­te ins­be­son­de­re aus Con­tain­ment und Cocoo­ning her­aus­zu­de­stil­lie­ren und in einer Stra­te­gie zu kom­bi­nie­ren, die wir Cocoo­ning Plus nen­nen. Dem­nach soll­ten vor allem alte und vor­er­krank­te Men­schen beson­ders geschützt wer­den, ohne dass wir ein­däm­men­de Maß­nah­men wie Tests, Tra­cing-Apps und das Tra­gen von Mas­ken ver­nach­läs­si­gen. Eben­so soll­te eine Impf­pflicht erwo­gen wer­den, sobald ein geeig­ne­tes Prä­pa­rat zur Ver­fü­gung steht. Ein rei­ner Delay der Pan­de­mie, also die lang­sa­me Durch­seu­chung zum Auf­bau von Her­den­im­mu­ni­tät, birgt dage­gen gro­ße gesund­heit­li­che Risi­ken, hat enor­me öko­no­mi­sche Kos­ten und schränkt unse­re Grund­rech­te untrag­bar lan­ge ein.

Könn­te man der Idee des Cocoo­ning nicht vor­wer­fen, sie füh­re zu einer inak­zep­ta­blen Iso­lie­rung der Risikogruppen?

In der Tat wird die­ser Vor­wurf manch­mal erho­ben. Dazu ist zu sagen: Der umfas­sen­de Schutz der Risi­ko­grup­pen ist zunächst als Ange­bot gemeint, nicht als Pflicht. Damit erhöht er den Frei­heits­spiel­raum der Risi­ko­grup­pen und dient nicht der Iso­lie­rung. Im Gegen­teil: Der Schutz müss­te etwa die Bereit­stel­lung von FFP2-Fil­ter­mas­ken umfas­sen, was der Iso­lie­rung gera­de ent­ge­gen­wirkt. Es ist unver­ständ­lich und gefähr­lich, dass die Bereit­stel­lung die­ser Mas­ken so lan­ge auf sich war­ten lässt. Das­sel­be gilt im Übri­gen für die Tra­cing-Apps, die immer noch nicht vorliegen.

Erst dann, wenn eine Kata­stro­phe auf den Inten­siv­sta­tio­nen hin­rei­chend abseh­bar wird, ist es in libe­ra­ler Per­spek­ti­ve legi­tim, aus dem umfas­sen­den Cocoo­ning-Ange­bot eine Pflicht zu machen. Denn wer sich dann nicht schützt – zumal wenn er ein beson­de­res Risi­ko trägt – erhöht im Fal­le einer Erkran­kung die Über­las­tung der Kran­ken­häu­ser. Damit gefähr­det er nicht nur sich selbst, son­dern auch ande­re, deren Risi­ko dann steigt, nicht mehr behan­delt wer­den zu können.

Vor die­sem Hin­ter­grund scheint uns eine Cocoo­ning-Plus-Stra­te­gie am ehes­ten ver­tret­bar. Sie erfolg­reich umzu­set­zen, ist eine gesell­schaft­li­che Her­ku­les­auf­ga­be, die wir mög­lichst schnell in Angriff neh­men bezie­hungs­wei­se vor­an­trei­ben müs­sen. Denn wir wis­sen nicht, wel­che Worst-Case-Sze­na­ri­en uns noch blü­hen könn­ten: Es ist nicht aus­ge­schlos­sen, dass Her­den­im­mu­ni­tät gar nicht hin­rei­chend auf­ge­baut wer­den kann, weil Reinfek­tio­nen vor­kom­men; dass die Risi­ko­grup­pen trotz gro­ßer Anstren­gun­gen nicht hin­rei­chend geschützt wer­den kön­nen; dass es wie bei der Spa­ni­schen Grip­pe zu einer zwei­ten Infek­ti­ons­wel­le kommt, die sich auf­grund einer Muta­ti­on des Virus viel töd­li­cher aus­wirkt; dass auch in zwei Jah­ren noch kein Impf­stoff vor­liegt; oder dass ein erheb­li­cher Anteil der Covid-19-Pati­en­ten mas­si­ve Fol­ge­schä­den davon­tra­gen, nicht nur an der Lun­ge. Vor­sicht ist bes­ser als Nach­sicht, und auf Glück im rus­si­schen Rou­lette­spiel zu set­zen kei­ne ver­tret­ba­re Strategie.

Nikil Muker­ji ist Phi­lo­soph und Ökonom. Er forscht an der Ludwig-Maximilians-Universität München und ist eben­dort Geschäftsführer des Stu­di­en­gangs „Phi­lo­so­phie Poli­tik Wirt­schaft“.

Adria­no Man­ni­no ist Phi­lo­soph und Sozi­al­un­ter­neh­mer. Er forscht an der Lud­wig-Maxi­mi­li­ans-Uni­ver­si­tät und lei­tet das Solon Cen­ter for Poli­cy Inno­va­ti­on der Par­men­i­des Stif­tung in München.