INTERVIEW MIT ADRIANO MANNINO • 28.05.2020
Philosophie in der Krise:
“Wir sollten auf Vorrat denken”
Wie ist rationales Handeln in der Corona-Krise möglich? Die Philosophen Nikil Mukerji (HAI-Beirat) und Adriano Mannino schreiben im neuen SPIEGEL-Bestseller über „Philosophie in Echtzeit“ und „Katastrophenethik“. Im Interview erklärt Mannino, was es damit auf sich hat.
Vor wenigen Tagen ist euer Buch „Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit“ bei Reclam erschienen. Ihr seid beide keine Virologen oder Epidemiologen, sondern Philosophen. Was kann die Philosophie in der derzeitigen Krise zur Problemlösung beitragen?
In der Krise hat sich schnell gezeigt, dass die Virologie und Epidemiologie bei Weitem nicht die einzigen Disziplinen sind, die etwas zu sagen haben. Es braucht eine interdisziplinäre Auseinandersetzung, die alle relevanten Aspekte aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Ökonomen beschäftigen sich etwa mit den wirtschaftlichen Konsequenzen eines Shutdowns, Juristen mit der Zulässigkeit von Grundrechtseinschränkungen und Soziologen mit den sozialen Konsequenzen der Pandemie. Auch die Philosophie kann und muss einen Beitrag leisten, unter anderem weil sie Antworten auf die Frage nach der rationalen und ethisch vertretbaren Entscheidung unter Bedingungen der Unsicherheit und des Unwissens anbietet. Diese Frage ist Gegenstand philosophischer Disziplinen wie der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, der Entscheidungstheorie sowie der Risikoethik.
In eurem Buch ist von einer „Philosophie in Echtzeit“ die Rede. Was meint ihr damit und warum ist sie gerade in der Corona-Krise notwendig?
Angesichts der Dringlichkeit der Probleme stehen wir gegenwärtig unter Entscheidungszwang und können uns nicht den Luxus leisten, so lange zu warten, bis gesichertes Wissen vorliegt. Wir müssen Daten und Argumente unter Deadlinedruck verarbeiten, weil Handlungsentscheidungen notgedrungen vor einem bestimmten Zeitpunkt getroffen werden müssen. Es besteht daher ein Vorrang der Praxis. Dabei müssen wir auch dann mit den besten verfügbaren Informationen arbeiten, wenn sie weniger verlässlich sind, als wir dies unter normalen Umständen akzeptieren würden. Die Forschungslage ändert sich in rasantem Tempo, was eine Anpassung unseres Denkens und Handelns erfordert. „Philosophie in Echtzeit“ ist bestrebt, diesem dynamischen Prozess und den bevorstehenden Deadlines gerecht zu werden. Im letzten Kapitel des Buches stellen wir „zehn Gebote“ für das Philosophieren in Echtzeit zusammen.
Philosophisches Arbeiten benötigt normalerweise Zeit zum Nachdenken. Steht eine Philosophie in Echtzeit nicht in Gefahr, nachlässig zu sein und wichtige Aspekte auszublenden?
In der Tat sollte Philosophie in Echtzeit möglichst vermieden werden – das ist eines der zehn Gebote. Es ist sehr viel besser, auf Vorrat zu denken und nicht zu warten, bis ein Katastrophenrisiko zugeschlagen hat. Das Denken auf Vorrat ist sozusagen ein philosophischer Hamsterkauf, mit dem man sich für schlechte Zeiten absichert. Wenn man das Denken auf Vorrat aber versäumt hat, muss man Probleme zwangsläufig hart priorisieren und büßt an Freiheit ein, die eigenen Forschungsfragen nach Lust und Laune zu wählen. Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer „kognitiven Triage“, in Anlehnung an die Triage in der Notfallmedizin. Wir müssen uns fragen, welche offenen Fragen besonders drängend sind und welche warten müssen.
Eine wichtige Eigenschaft guter Philosophie in Echtzeit, so schreibt ihr im Buch, sei die „kognitive Arbeitsteilung“. Niemand kann sich in der gebotenen Eile allen Problemen widmen. Das heißt natürlich, dass wir bestimmten Expertinnen und Experten bis zu einem gewissen Grad vertrauen müssen. Nun vertreten aber nicht alle Expertinnen und Experten dieselben Ansichten, sondern widersprechen sich in vielen Punkten. Wie können wir beurteilen, wem von ihnen zu vertrauen ist?
In der Regel ist es zunächst einmal sinnvoll, der Mehrheit der Expertengemeinschaft zu folgen, da sie statistisch zuverlässiger urteilt. Unser Vertrauen in die Mehrheitsmeinung der Experten sollte aber nicht absolut sein, sondern ein Wahrscheinlichkeitsurteil darstellen. Schließlich macht es einen Unterschied, ob nahezu alle Experten eine Ansicht vertreten oder bloß eine geringe Mehrheit. Damit ist aber die Frage noch nicht geklärt, auf wessen Meinung wir uns in unserem Handeln stützen sollten. Hier kommen die Entscheidungstheorie und die Risikoethik ins Spiel. Wir müssen uns nämlich fragen, wie schlimm es wäre, wenn sich eine Expertengruppe irren sollte, und ob wir ein solches Szenario verantworten können. Bei umstrittenen Themen kann es daher durchaus vernünftig sein, der Mehrheit von Experten Glauben zu schenken, zugleich aber auf Nummer sicher zu gehen und im praktischen Handeln einer Minderheit pessimistischer Experten zu folgen. „Pessimistisch“ bedeutet hier, dass die entsprechenden Experten ein Katastrophenszenario vorhersagen, wenn wir nicht handeln. Wir zeigen im Buch auf, dass der Shutdown wahrscheinlich vermeidbar gewesen wäre, wenn wir uns an diesem Prinzip – „Folge der Expertenminderheit, wenn sie pessimistisch ist“ – orientiert hätten.
Um rational und verantwortungsvoll entscheiden zu können, müssen wir die Konsequenzen unserer Entscheidungen kennen. Ist dies in der Krise überhaupt möglich, wenn sich die Forschungslage ständig ändert und die Konsequenzen unserer Handlungen ungewiss sind?
Das ist tatsächlich ein schwerwiegendes Problem. Wenn die Ungewissheit umfassend ist, kann man sich oft nur an Heuristiken orientieren. In vielen Fällen ist aber dennoch erkennbar, welche Optionen vorzuziehen sind, weil Risiken ungleich verteilt sind. Entscheidend ist insbesondere, worauf wir wetten würden, wenn katastrophale Worst-Case-Szenarien nicht ausgeschlossen werden können.
Das wird beispielsweise deutlich, wenn wir auf den Anfang der Pandemie zurückblicken: Nachdem die chinesische Provinz Hubei militärisch abgeriegelt worden war, hätte klar sein müssen, dass die Gefahrenlage auch für uns wahrscheinlich sehr real ist. Man musste zu allem Übel auch mit der Möglichkeit rechnen, dass die chinesische Staatspropaganda die Opferzahlen massiv schönt. Die tragische Fallstudie Norditaliens, die Europa am Ende wachgerüttelt hat, wäre nicht notwendig gewesen – China hätte genügen müssen. Man wusste, dass die Welt so globalisiert und vernetzt ist wie niemals zuvor, und dass ein Virus binnen weniger Stunden um die ganze Welt reisen kann. Man hätte daher zumindest den Flugverkehr aus China stoppen und den Maskenvorrat sofort überprüfen sollen. Gesundheitsminister Spahn meinte, es sei nicht absehbar gewesen, dass die Masken als Centprodukt „plötzlich so teuer“ werden könnten. Was glaubte man denn, würde während einer Pandemie am Maskenmarkt geschehen? Schon vor Jahren wäre es auch sinnvoll gewesen, Tracing-Apps zu entwickeln und Strategien zum Hochfahren der Testkapazitäten festzulegen. Während in westlichen Ländern weiter verharmlost wurde, hatte man beispielsweise in Südkorea und Taiwan dieses effektive und vergleichsweise günstige Maßnahmenpaket längst umgesetzt. Anders als hier war in Südkorea und Taiwan deswegen bis heute kein Shutdown notwendig. Seit Beginn der Pandemie gab es in Südkorea weniger als 12.000 bestätigte Corona-Fälle, in Taiwan sind es keine 500.
Bezeichnend ist natürlich auch, dass die Abteilung für Gesundheitssicherheit im Gesundheitsministerium gerade erst ad hoc geschaffen wurde. Eine solche Abteilung würde man sich seit Jahrzehnten an der Arbeit wünschen. Das wirft die unangenehme Frage auf: In wie vielen anderen Bereichen fehlen Sicherheitsabteilungen? Am Solon Center for Policy Innovation der Parmenides Stiftung untersuchen wir solche Fragen systematisch.
Im Rückblick weiß man natürlich vieles besser…
Viele wussten es auch vorausblickend durchaus besser. Dazu gehören etwa Bill Gates, Nassim Taleb oder die ganze ostasiatische epidemiologische Expertencommunity, der wir hätten folgen sollen.
Doch dürfen wir solch drastische Maßnahmen wie einen Shutdown veranlassen, wenn wir ihre Notwendigkeit nicht mit Gewissheit begründen können? Immerhin sind enorme Kosten und auch Existenzen damit verbunden.
Die Maßnahmen ergreifen wir nicht deshalb, weil wir uns sicher sind, sondern gerade weil wir Entscheidungen unter Ungewissheit fällen müssen. Wir sehen, dass wir unterschiedliche Handlungsoptionen haben, die mehr oder weniger riskant sind. Da Vorsicht besser ist als Nachsicht, versuchen wir die Risiken möglichst zu minimieren. Unverantwortlich wäre es dagegen, mit dem Feuer zu spielen und den Tod hunderttausender Menschen in Kauf zu nehmen, der bei einer Durchseuchung der Gesellschaft resultieren könnte. Selbst wenn sich im Rückblick herausstellen würde, dass diese Pandemie nicht so gefährlich war, wären die Präventionsmaßnahmen und ein frühzeitiger Shutdown also gerechtfertigt gewesen.
Der Shutdown war insbesondere auch deshalb die einzig richtige Wahl, weil nur er eine reversible Strategie darstellt. Wenn man die Verbreitung des Virus nicht hinreichend schnell bremst, läuft man Gefahr, sich unumkehrbar auf eine Durchseuchung festzulegen. Ein Shutdown kann gelockert und aufgehoben werden, eine exponentielle Durchseuchung nicht. Risikoethisch ist der Shutdown als reversible Strategie daher überlegen. Nur reversible Strategien ermöglichen es, begangene Fehler zu korrigieren und unser Handeln an den neuen Kenntnisstand anzupassen. Eine solche kritisch-rationale Haltung, welche die prinzipielle Fehlbarkeit unserer Entscheidungen berücksichtigt, hätte von Seiten der wissenschaftlichen Experten und der Politik auch viel klarer kommuniziert werden müssen. Damit hätte man auch jenem Nährboden Wasser abgegraben, auf dem derzeit Corona-Verharmlosungen und Verschwörungstheorien gedeihen.
Was die wirtschaftlichen Folgen des Shutdowns betrifft, wird oft ignoriert, wie schlimm sich eine Durchseuchung auch wirtschaftlich auswirken kann. In Schweden beispielsweise sind die ökonomischen Schäden auch massiv, weil sich viele Menschen freiwillig an Shutdown-Maßnahmen halten. Aber das Land hat unnötig viele Todesopfer zu verzeichnen und ist ein großes, angesichts des Unwissens über das Ausmaß der Gefahr kaum vertretbares Risiko eingegangen. Auch vom Ziel der Herdenimmunität ist man in Schweden noch weit entfernt. Wenn es ein Land nicht schafft, das Virus einzudämmen, wird gerade das den Konsum seiner Einwohner nachhaltig dämpfen. Bei vielen Konsumaktivitäten geht man jedes Mal ein gewisses Risiko ein, wenn das Virus nicht eingedämmt ist. Unternehmen werden sich überlegen, ihre Standorte in Länder zu verschieben, die das Virus wirklich besiegt haben. Es ist kurzsichtig, nur die Corona-Todesrisiken in den Blick zu nehmen, die für jüngere Menschen relativ gering sind. Auch Krankheitsrisiken – bei stärkeren Verläufen fällt man ein, zwei Monate aus – entfalten als ökonomischer Negativanreiz eine erhebliche Wirkung. Es wird unterschätzt, wie sehr der öffentliche Raum und die Wirtschaft davon abhängen, dass keine Seuchengefahr besteht.
Wegen der Pandemie wird mit einer tiefen und langanhaltenden Rezession der Weltwirtschaft gerechnet. Auch dadurch stehen hunderttausende Menschenleben auf dem Spiel. Müsste eine umsichtige Risikoethik nicht auch ein ökonomisches Worst-Case-Szenario in den Blick nehmen und in politische Entscheidungen einbeziehen?
Doch, absolut. Wir argumentieren im Buch vor allem für die folgende These: Hätten wir das pandemische Katastrophenrisiko ernst genommen und wären wir vorbereitet gewesen, hätten Staaten sowohl die Überlastung der Intensivstationen als auch den Shutdown – und damit das ökonomische Katastrophenrisiko – vermeiden können. Länder wie Südkorea, Taiwan oder Japan beweisen, dass das in der Tat möglich war. Wir hätten vor der Katastrophe tätig werden müssen. Denn wenn eine Katastrophe eintritt, hat man oft nur noch schlechte Optionen, die allesamt mit erheblichen Risiken behaftet sind.
Dennoch scheint uns, dass der temporäre Shutdown – zur Vermeidung einer irreversiblen Durchseuchung der Gesellschaft – risikoethisch klar das geringere Übel war. Die empirischen Daten schließen eine Todesrate des Virus von 1 Prozent nicht aus aus, viele internationale Experten geben mittlere Schätzungen von rund 0,5 Prozent ab. Die Heinsberg-Studie kam auf 0,37 Prozent, ist aber mit gewissen methodischen Problemen behaftet. Doch rechnen wir mit den 0,37 bzw. 0,4 Prozent: Bis zur Herdenimmunität müssten sich in Deutschland vermutlich über 50 Millionen Menschen infizieren, sodass eine Durchseuchung allein hierzulande über 200.000 Tote zur Folge hätte, im Falle einer Todesrate von 1 Prozent sogar 500.000. Sobald die Kapazitätsgrenze der Intensivstationen erreicht ist, gleicht sich die Todesrate zudem der intensiven Hospitalisierungsrate an, die bei 2 Prozent liegen könnte. Das wurde oft ignoriert: Die Todesrate ist keine fixe Größe, sondern steigt sprunghaft an, sobald die Intensivstationen überlastet sind und alle weiteren Patienten abweisen müssen.
Auch vernachlässigt werden die möglichen Folgeschäden der Krankheit. Die Risikodiskussion wird oft verengt auf die Mortalitätsrisiken, aber die Morbiditätsrisiken sind genauso relevant. Studien legen zum Beispiel nahe, dass mehr als 10 Prozent der Sars-1-Überlebenden von 2003 physische oder psychische Langzeiterkrankungen davongetragen haben, etwa ein chronisches Erschöpfungssyndrom. Wenn man annimmt, dass Sars‑1 rund 10-mal tödlicher und schädlicher war als das aktuelle Sars‑2, ergeben sich immer noch 1 Prozent, die danach chronisch krank wären. Das sind zusätzliche 500.000 Personen – eine menschliche, aber auch eine ökonomische Katastrophe. Wer an Erkrankungen wie dem chronischen Erschöpfungssyndrom leidet, fällt beruflich oft permanent aus.
Im Vergleich dazu scheinen die Risiken einer Rezession viel eher verantwortbar, zumindest in reichen Ländern. Doch was ist mit den Todesopfern, die in Entwicklungsländern resultieren könnten? Wer so argumentiert, müsste unabhängig von der Corona-Krise zum Beispiel gefragt haben: Warum streichen wir den Sozialstaat in reichen Ländern nicht zusammen und unterstützen mit den frei werdenden Ressourcen die ärmsten Länder? Tun wir das nicht, resultieren in den Entwicklungsländern auch viele Tote. Aber wir priorisieren unsere eigene Gesellschaft aus gutem Grund: Wenn wir selbst in schwere Krisen geraten, können wir anderen Ländern nicht mehr helfen. Und selbst wenn wir weiterhin helfen könnten, so wäre der politische Wille dafür nicht mehr vorhanden. Zudem schulden wir unseren Mitbürgern – als Mitgliedern einer besonders engen Kooperationsgemeinschaft – mehr als den Bewohnern von Entwicklungsländern, auch wenn jedes Menschenleben an sich gleich zählt.
Nicht nur Laien, sondern auch Experten haben die Gefahr der Pandemie anfangs nicht ernst genommen. Woran liegt das?
Den Laien fehlt oft das grundlegende Wissen über epidemische Vorgänge und die damit verbundenen Risiken. Nur wenige von ihnen dürften etwa von dem Ausmaß der Spanischen Grippe gehört haben, die zwischen 1918 und 1920 bis zu 100 Millionen Todesopfer forderte. Zum Vergleich: Diese Zahl übersteigt die Zahl der militärischen Opfer des Ersten Weltkriegs um das Vier- bis Fünffache. Trotzdem ist diese Katastrophe nicht wirklich in das Gedächtnis der Menschheit eingedrungen. Mangelnde historische Bildung kann damit auch zu einer Unterschätzung gegenwärtiger Bedrohungslagen führen. Die Geschichtswissenschaft und der Geschichtsunterricht sollten in Betracht ziehen, dem Defizit an „Katastrophenwissen“ entgegenzuwirken.
Anders verhält es sich bei den Virologen und Epidemiologen. Natürlich wissen sie über die Gefahren von Viren und Pandemien bestens Bescheid. Dennoch haben sich auch einige von ihnen anfangs massiv geirrt. Der Bonner Virologe Hendrik Streeck etwa meinte Ende Januar, das neue Coronavirus sei „bei Weitem nicht gefährlicher als die Grippe“. Auch der Charité-Virologe Christian Drosten, dessen Präsenz und Aufklärungsarbeit ich allgemein sehr schätze, hat die Gefahr verkannt, wenn auch weniger krass. Noch Ende Februar sagte er, dass es vermutlich unproblematisch sein würde, im April nach Italien zu reisen. Dasselbe erklärte der Schweizer Epidemiologe und gegenwärtige Regierungsberater Marcel Salathé am 28. Februar gegenüber dem Online-Magazin “Republik”. Er meinte, er sehe seiner geplanten Italienreise im April „relaxed“ entgegen. Nur wenige Tage später befand sich Norditalien im Ausnahmezustand. Die Intensivmediziner berichteten, es müsse triagiert werden “wie im Krieg”. Viele Patienten erhielten keine medizinische Betreuung mehr, da die Kapazitäten erschöpft waren – nicht wenige starben zuhause einen qualvollen Erstickungstod.
Wie kann es zu solchen Fehleinschätzungen kommen?
Einerseits liegen sie wohl darin begründet, dass für handlungsrelevante Einschätzungen wie „Italienreisen sind unproblematisch“ eben nicht nur epidemiologische, sondern auch risikoethische Sachverhalte eine Rolle spielen. Andererseits aber kann man auf die Psychologie zurückgreifen, um typische kognitive Verzerrungen zu erklären, denen auch Experten unterliegen. Ihnen mangelt es ja gewiss nicht an fachlicher Expertise. Eine andere Sache ist es aber, dieses Wissen auch intuitiv und emotional korrekt zu erfassen und in angemessene Handlungen zu übersetzen. Aus evolutionären Gründen sind unsere Gehirne zum Beispiel nicht darauf ausgelegt, die Dynamik exponentieller Wachstumsprozesse korrekt wahrzunehmen. Stattdessen denken wir intuitiv in linearen Bewegungen, was zur groben Modellierung unserer steinzeitlichen Lebenswelt ausreichte. Die Kognitionspsychologie hat gezeigt, dass Experten hier nicht selten denselben intuitiven Trugschlüssen aufsitzen wie Laien und sich dessen häufig ebenso wenig bewusst sind.
Gerade bei wissenschaftlich orientierten Menschen ist zudem oft auch eine Angst vor der Angst zu beobachten. Natürlich gibt es irrationale Formen der Panik, die den klaren Blick auf die Welt versperren und einen der Handlungskontrolle berauben. Ebenso gibt es aber auch die vernünftige Panik, die evolutionär in uns angelegt ist und vor realen Bedrohungen schützt. Ein Tier, das in der Natur keine Panik empfinden könnte, wäre sehr schnell ein totes Tier. Die Spezies Homo Sapiens ist davon natürlich nicht ausgenommen. Kontrollierte Panik, die uns schnell und entschlossen handeln lässt, kann lebensrettend sein. Jedes Angstgefühl gleich als irrational zu verdammen, wie es manche Risikopsychologen und Verhaltensökonomen gerne tun, hilft bei der sachlichen Einschätzung einer Gefahrenlage nicht weiter. Dass es Menschen in vielen Fällen schwer fällt, Risiken adäquat einzuschätzen, sagt nämlich nichts über die tatsächliche Gefahr aus, die etwa im gegenwärtigen Pandemiefall besteht. Dennoch haben sich viele prominente Risikopsychologen und Verhaltensökonomen im Februar und März dieses Jahres mit der These hervorgetan, die Menschen hätten unbegründete Panik vor einem neuen Grippevirus.
Nicht zuletzt fehlt es insbesondere den westlichen Gesellschaften an relevantem Erfahrungswissen und an der Bereitschaft, von anderen Gesellschaften zu lernen. Gefährliche Epidemien waren bis vor Kurzem schlicht nicht Teil unserer Lebenswelt. Daher wähnt man sich in einer Sicherheit, die nicht gegeben ist. Lothar Wieler, der Präsident des Robert-Koch-Instituts, sagte Ende März an einer Pressekonferenz: „Wir alle sind in einer Krise, die ein Ausmaß hat, das ich mir selber nie hätte vorstellen können.“ So erging es wohl vielen. Vermutlich spielt diesbezüglich auch eine gewisse kulturelle Überheblichkeit eine Rolle. Nach dem Motto: “Was kann uns im sichersten und wirtschaftsstärksten Land Europas schon passieren?” Selbst als in Italien der Katastrophenfall eintrat, wollte man den Ernst der Lage in Deutschland und in der Schweiz zunächst nicht wahrhaben. Es dauerte mehrere Tage, bis die erschütternden Triage-Berichte italienischer Intensivmediziner in der deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Italienische Führungskräfte und Journalisten, zu denen ich als halber Italiener guten Zugang habe, hatten tagelang verzweifelt und vergeblich versucht, die deutsche Öffentlichkeit wachzurütteln. Ich bin immer noch schockiert, wie schlecht die Kommunikation zwischen den europäischen Öffentlichkeiten funktioniert hat. In einem geeinten Europa muss man sich in Echtzeit zuhören und antworten können.
Angenommen es stellt sich rückblickend heraus, dass die Corona-Pandemie unerwartet glimpflich verlaufen ist. Würde dies nicht das Vertrauen in öffentliche Institutionen erschüttern, was risikoethisch ebenso berücksichtigt werden müsste?
Ja, es könnte durchaus sein, dass Teile der Gesellschaft dann Vorwürfe erheben. Das ist das „Paradoxon der Prävention“: Man sieht nicht die Schäden, die wegen erfolgreicher Maßnahmen ausgeblieben sind. Zu welchen Kurzschlüssen das führen kann, erleben wir schon jetzt bei den sogenannten „Corona-Rebellen“, die jede noch so vernünftige Regel als Bevormundung und unbegründete Panikmache abtun. Dabei sollten sie eigentlich glücklich sein, in einem Gemeinwesen leben zu dürfen, das den Schutz seiner Mitglieder oben anstellt und nicht fahrlässig Menschenleben gefährdet.
Klar ist auch: Bei einem, sagen wir, zehnprozentigen Risiko für einen Katastrophenfall wären Präventionsmaßnahmen statistisch in neun von zehn Fällen „umsonst“ gewesen. Das heißt aber keineswegs, dass wir sie nicht hätten ergreifen sollen. Denn wer möchte ernsthaft in einer Gesellschaft leben, in der kollektiv russisches Roulette gespielt wird? Entlang dieser Linien müsste erklärt werden, dass es keinen Grund gibt, den öffentlichen Institutionen oder der Wissenschaft das Vertrauen zu entziehen, selbst wenn sich Präventionsmaßnahmen im konkreten Fall als unnötig erweisen. Im Fall von Covid-19 legen die aktuellen Daten aber nahe, dass die Präventionsmaßnahmen wichtig waren und noch bedeutend früher hätten ergriffen werden sollen.
Zum Schluss noch ein Blick nach vorne: Wie sieht eurer Meinung nach ein ethisch vertretbarer Weg aus dem Shutdown aus?
Wir unterscheiden drei Strategien, die einen Weg aus dem Shutdown weisen könnten. Zum einen wäre es mit einem Delay (Verzögerung) möglich, die Infektionskurve über einen sehr langen Zeitraum abzuflachen, damit das Gesundheitssystem nicht überlastet wird. Die zweite Strategie ist das Containment (Eindämmung), dessen Ziel es ist, die effektive Reproduktionszahl des Virus durch geeignete Maßnahmen auf einen Wert unter 1 zu senken, um die Epidemie einzudämmen und im Idealfall gänzlich zu stoppen. Schließlich könnten drittens mit einem Cocooning (Einigelung) die Hochrisikogruppen bestmöglich vor Infektionsrisiken geschützt werden, während die Gesellschaft ansonsten weitgehend normal funktioniert.
Alle drei Strategien sind mit Vor- und Nachteilen verbunden. Wir schlagen vor, das Beste insbesondere aus Containment und Cocooning herauszudestillieren und in einer Strategie zu kombinieren, die wir Cocooning Plus nennen. Demnach sollten vor allem alte und vorerkrankte Menschen besonders geschützt werden, ohne dass wir eindämmende Maßnahmen wie Tests, Tracing-Apps und das Tragen von Masken vernachlässigen. Ebenso sollte eine Impfpflicht erwogen werden, sobald ein geeignetes Präparat zur Verfügung steht. Ein reiner Delay der Pandemie, also die langsame Durchseuchung zum Aufbau von Herdenimmunität, birgt dagegen große gesundheitliche Risiken, hat enorme ökonomische Kosten und schränkt unsere Grundrechte untragbar lange ein.
Könnte man der Idee des Cocooning nicht vorwerfen, sie führe zu einer inakzeptablen Isolierung der Risikogruppen?
In der Tat wird dieser Vorwurf manchmal erhoben. Dazu ist zu sagen: Der umfassende Schutz der Risikogruppen ist zunächst als Angebot gemeint, nicht als Pflicht. Damit erhöht er den Freiheitsspielraum der Risikogruppen und dient nicht der Isolierung. Im Gegenteil: Der Schutz müsste etwa die Bereitstellung von FFP2-Filtermasken umfassen, was der Isolierung gerade entgegenwirkt. Es ist unverständlich und gefährlich, dass die Bereitstellung dieser Masken so lange auf sich warten lässt. Dasselbe gilt im Übrigen für die Tracing-Apps, die immer noch nicht vorliegen.
Erst dann, wenn eine Katastrophe auf den Intensivstationen hinreichend absehbar wird, ist es in liberaler Perspektive legitim, aus dem umfassenden Cocooning-Angebot eine Pflicht zu machen. Denn wer sich dann nicht schützt – zumal wenn er ein besonderes Risiko trägt – erhöht im Falle einer Erkrankung die Überlastung der Krankenhäuser. Damit gefährdet er nicht nur sich selbst, sondern auch andere, deren Risiko dann steigt, nicht mehr behandelt werden zu können.
Vor diesem Hintergrund scheint uns eine Cocooning-Plus-Strategie am ehesten vertretbar. Sie erfolgreich umzusetzen, ist eine gesellschaftliche Herkulesaufgabe, die wir möglichst schnell in Angriff nehmen beziehungsweise vorantreiben müssen. Denn wir wissen nicht, welche Worst-Case-Szenarien uns noch blühen könnten: Es ist nicht ausgeschlossen, dass Herdenimmunität gar nicht hinreichend aufgebaut werden kann, weil Reinfektionen vorkommen; dass die Risikogruppen trotz großer Anstrengungen nicht hinreichend geschützt werden können; dass es wie bei der Spanischen Grippe zu einer zweiten Infektionswelle kommt, die sich aufgrund einer Mutation des Virus viel tödlicher auswirkt; dass auch in zwei Jahren noch kein Impfstoff vorliegt; oder dass ein erheblicher Anteil der Covid-19-Patienten massive Folgeschäden davontragen, nicht nur an der Lunge. Vorsicht ist besser als Nachsicht, und auf Glück im russischen Roulettespiel zu setzen keine vertretbare Strategie.
Nikil Mukerji ist Philosoph und Ökonom. Er forscht an der Ludwig-Maximilians-Universität München und ist ebendort Geschäftsführer des Studiengangs „Philosophie Politik Wirtschaft“.
Adriano Mannino ist Philosoph und Sozialunternehmer. Er forscht an der Ludwig-Maximilians-Universität und leitet das Solon Center for Policy Innovation der Parmenides Stiftung in München.