14.  Sep­tem­ber 2020

Virtual Rationality Congress

Rationalität in Krisenzeiten

Wie schaf­fen wir es, als Ein­zel­ne und als Gesell­schaft ver­nunft­ge­lei­tet zu ent­schei­den und zu han­deln? Was ist über­haupt Ratio­na­li­tät? Und wie lau­ten die Kri­te­ri­en, mit deren Hil­fe wir ratio­na­le von irra­tio­na­len Argu­men­ta­tio­nen unter­schei­den kön­nen? Mit die­sen und ande­ren Fra­gen setz­te sich der “Vir­tu­al Ratio­na­li­ty Con­gress 2020” des Hans-Albert-Insti­tuts und der Gior­da­no-Bru­no-Stif­tung auseinander.

Gera­de in Zei­ten, in der Ver­schwö­rungs­theo­rien gro­ßen Zuspruch fin­den und sämt­li­che Stan­dards der Ratio­na­li­tät unter­gra­ben wer­den, braucht es eine star­ke Stim­me der Ver­nunft. Doch so leicht es ist, Ratio­na­li­tät gegen­über ande­ren ein­zu­for­dern, so schwer ist es, selbst den Anfor­de­run­gen der Ratio­na­li­tät zu genü­gen. Denn wir alle leben in unse­ren jewei­li­gen Fil­ter­bla­sen, in unse­ren jewei­li­gen Echo­kam­mern und füh­ren uns dies nur sel­ten vor Augen. Um das Bewusst­sein für die Fall­stri­cke des Den­kens zu schär­fen, ver­an­stal­te­te das Hans-Albert-Insiti­tut (HAI) in Zusam­men­ar­beit mit der Gior­da­no-Bru­no-Stif­tung (gbs) einen Online-Kon­gress zum The­ma “Ratio­na­li­tät in der Kri­se”, der inzwi­schen auf dem You­Tube-Kanal des HAI abruf­bar ist.

Sophie Stro­bl, Direk­to­ri­ums­mit­glied des HAI, beton­te in ihrer Begrü­ßung die Not­wen­dig­keit einer kri­tisch-ratio­na­len, wis­sen­schaft­li­chen Sicht auf die Welt: “Wir haben über die letz­ten Mona­te hin­weg in vie­len Län­dern gese­hen, was pas­siert, wenn in der Poli­tik wis­sen­schaft­li­che Fak­ten igno­riert wer­den. Und wir sehen auch die Aus­wir­kun­gen von zuneh­men­der Pola­ri­sie­rung und zuneh­men­den Lager­den­ken in unse­rer Gesell­schaft, wenn die Akzep­tanz von Fak­ten davon abhängt, zu wel­chem poli­ti­schen Team man gehört.” Umso wich­ti­ger sei es, dass sich poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen an der Rea­li­tät mes­sen las­sen und die Regeln einer zivi­li­sier­te Streit­kul­tur ein­ge­hal­ten werden.

Als ers­ter Refe­rent unter­such­te Micha­el Schmidt-Salo­mon die Grün­de dafür, war­um es uns so schwer­fällt, ratio­nal zu sein, und wie wir es viel­leicht doch schaf­fen kön­nen, unse­re Fehl­ein­schät­zun­gen und gefühl­ten Wahr­hei­ten zu über­win­den. Der Phi­lo­soph und Vor­stands­spre­cher der Gior­da­no-Bru­no-Stif­tung erklär­te, dass es Men­schen ins­be­son­de­re dann zur Irra­tio­na­li­tät nei­gen, wenn sie “in eine sozio-kul­tu­rel­le Matrix hin­ein­so­zia­li­siert wer­den, die sie mit irra­tio­na­len Gewiss­hei­ten aus­stat­tet.” Auf­grund der bio­lo­gi­schen Beschränkt­heit des Men­schen sei es grund­sätz­lich schwie­rig, ver­nünf­tig zu sein und die ver­meint­li­chen Gewiss­hei­ten kri­tisch zu über­prü­fen. Statt bewusst und tief nach­zu­den­ken, so Schmidt-Salo­mon, lie­ßen wir uns lie­ber von unse­ren Intui­tio­nen lei­ten, die höchst feh­ler­an­fäl­lig sind. Grund zur Resi­gna­ti­on sei dies jedoch nicht: Denn wer sich die anstren­gen­den Tech­ni­ken des ratio­na­len Den­kens erst ein­mal ange­eig­net habe, set­ze sie spä­ter “ganz intui­tiv ein, ohne dar­über nach­den­ken zu müs­sen”. Ratio­na­li­tät kön­ne dem­nach auch als “Lebens­wei­se” ver­stan­den wer­den, so wie es Hans Albert vor etwa 50 Jah­ren gefor­dert hatte.

Im Anschluss stell­te der renom­mier­te Hirn­for­scher und Neu­ro­psy­cho­lo­ge Lutz Jäncke die pro­vo­zie­ren­de Fra­ge, “ob das Hirn ver­nünf­tig ist”. Er leg­te dar, wie unser Gehirn das Den­ken, Han­deln und Füh­len beein­flusst – und dass das manch­mal nur am Ran­de mit Ver­nunft zu tun hat. Um dies zu ver­deut­li­chen, wies Jäncke dar­auf hin, dass der Mensch sich aus evo­lu­tio­nä­ren Grün­den bloß auf das Wesent­li­che, also Über­le­bens­not­wen­di­ge kon­zen­trie­re. Dabei sei der größ­te Teil der Hirn­ak­ti­vi­tät mit unbe­wuss­ten Pro­zes­sen ver­bun­den. Unse­re Ent­schei­dun­gen basier­ten meis­tens nicht auf ana­ly­ti­schen und logi­schen Bewer­tun­gen, son­dern auf Heu­ris­ti­ken, die indi­vi­du­ell stark gefärbt und kul­tu­rell ein­ge­wo­ben sind.

Wei­ter ging es mit einem Vor­trag der Blog­ge­rin und Netz­ak­ti­vis­tin Katha­ri­na Nocun, die sich mit Ver­schwö­rungs­theo­rien aus­ein­an­der­setz­te und die Grün­de auf­zeig­te, die uns Men­schen für der­ar­ti­ge Erklä­rungs­mus­ter beson­ders anfäl­lig machen. Zwar wirk­ten ent­spre­chen­de Nar­ra­ti­ve mit ihrem Gut-Böse-Sche­ma, ihrer Kri­tiki­minn­u­ni­sie­rung und der Legi­ti­mie­rung von Gewalt ins­be­son­de­re in der rechts­ex­tre­men Sze­ne als Radi­ka­li­sie­rungs­be­schleu­ni­ger. Zugleich dür­fe man sie aber auch nicht als Rand­phä­no­men miss­ver­ste­hen. Viel­mehr sei­en sie quer durch die poli­ti­schen Lager inner­halb Gesell­schaft ver­an­kert. Wich­tig sei es, so Nocun, unter ande­rem Auf­klä­rungs­pro­jek­te zu för­dern und sich mit jenen Betrof­fe­nen soli­da­risch zu zei­gen, die ins Faden­kreuz von Ver­schwö­rungs­ideo­lo­gen gera­ten sind.

Der Phi­lo­soph und Öko­nom Nikil Muker­ji setz­te den Kon­gress mit einem Vor­trag über “Die zehn Gebo­te des gesun­den Men­schen­ver­stands” fort. Dar­in erläu­ter­te er die zen­tra­len Grund­sät­ze des ver­nünf­ti­gen Den­kens. Die­se erschei­nen bei erst­ma­li­ger Betrach­tung zwar tri­vi­al, sind aber – wenn es in der Pra­xis dar­auf ankommt – mit­nich­ten ein­fach abzu­ru­fen und ein­zu­hal­ten. Vie­les sei jeden­falls gewon­nen, wenn man “Ord­nung ins Den­ken” bringt, also eine kla­re Kern­fra­ge zu einem Pro­blem for­mu­liert und sich dabei nicht in asso­zia­ti­ven Gedan­ken­spie­len verliert.

Im anschlie­ßen­den Vor­trag ging der Phi­lo­soph Adria­no Man­ni­no der Fra­ge nach, inwie­fern Ratio­na­li­tät nicht nur für die Wahr­heits­su­che wich­tig ist, son­dern auch eine ethi­sche Dimen­si­on besitzt. Er zeig­te, wie Erkennt­nis­theo­rie, Risi­koethik und Ent­schei­dungs­theo­rie bei exis­ten­zi­el­len und schnell erfor­der­li­chen Her­aus­for­de­run­gen ohne siche­re Daten­grund­la­ge hel­fen kön­nen. Zur Risi­ko­ab­si­che­rung sei es unab­ding­bar, ratio­na­le Ent­schei­dun­gen unter Unge­wiss­heit zu fäl­len – so wie es etwa in der Coro­na-Kri­se unter drän­gen­dem Zeit­druck erfor­der­lich war. Rück­bli­ckend sei dabei klar gewor­den, dass die Gefahr der Pan­de­mie zuerst ver­kannt wur­de, dann viel zu spät reagiert wur­de und des­halb ein eigent­lich ver­meid­ba­rer Lock­down erfol­gen musste.

Zuletzt führ­te die Ärz­tin Nata­lie Grams durch den Dschun­gel medi­zi­ni­scher Halb­wahr­hei­ten. Sie mach­te klar, wie wert­voll ein wis­sen­schaft­li­cher Zugang bei der Bewer­tung von Behand­lungs­me­tho­den ist – gera­de auch im Hin­blick auf die hohe Attrak­ti­vi­tät fal­scher Heils­ver­spre­chen durch alter­na­tiv- bzw. pseu­do­me­di­zi­ni­sche Ange­bo­te. Eine fak­ten­ba­sier­te Medi­zin ori­en­tie­re sich an stren­gen Stan­dards wis­sen­schaft­li­cher For­schung und Pra­xis, die es uns ermög­li­chen, ratio­na­le Gesund­heits­ent­schei­dun­gen zu treffen.

HAI-Direk­to­ri­ums­mit­glied Flo­ri­an Che­fai been­de­te den Kon­gress mit einem Aus­blick auf die geplan­ten Akti­vi­tä­ten des Insti­tuts. In nächs­ten Mona­ten wol­le man sich wei­ter mit den Fra­gen der Ratio­na­li­tät aus­ein­an­der­set­zen. Dazu wird unter ande­rem eine Bro­schü­re ver­öf­fent­licht, in der die wis­sen­schafts­theo­re­ti­sche Posi­ti­on des Kri­ti­schen Ratio­na­lis­mus und ihre gesell­schaft­li­che Rele­vanz all­ge­mein­ver­ständ­lich dar­ge­stellt wird.

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