STELLUNGNAHME
Schwangerschaftsabbruch im liberalen Rechtsstaat
STELLUNGNAHME • 5. APRIL 2022
Schwangerschaftsabbruch
im
liberalen Rechtsstaat
Nicht nur § 219a StGB ist verfassungswidrig, sondern die gesamte deutsche Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch. Dies ist das Ergebnis einer Stellungnahme, die das Hans-Albert-Institut und die Giordano-Bruno-Stiftung zur Verfassungsbeschwerde der Ärztin Kristina Hänel in Karlsruhe eingereicht haben.
Eigentlich soll es in dem Verfahren zur Verfassungsbeschwerde von Kristina Hänel nur um § 219a StGB gehen, der es Ärztinnen und Ärzten viele Jahrzehnte lang verbot, Informationen zum Schwangerschaftsabbruch öffentlich bereitzustellen. Doch die von HAI-Direktoriumsmitglied und gbs-Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon formulierte Stellungnahme zeigt auf, dass § 219a StGB nur im Kontext der Gesetzgebung betrachtet werden kann, in die er eingebettet ist. Denn nur vor dem Hintergrund des generellen „Unwerturteils“ über den Schwangerschaftsabbruch konnte es überhaupt als rechtmäßig erscheinen, die Meinungs- und Berufsfreiheit von Ärztinnen und Ärzten einzuschränken.
Schwerwiegende Grundrechtsverstöße
Aus diesem Grund setzt sich die Stellungnahme „Schwangerschaftsabbruch im liberalen Rechtsstaat“ ausführlich mit den beiden maßgeblichen Urteilen auseinander, mit denen das Bundesverfassungsgericht die vom Deutschen Bundestag beschlossene „Fristenlösung“ 1975 und 1993 gekippt hatte. Dabei gelangt Schmidt-Salomon unter Berücksichtigung der relevanten wissenschaftlichen, ethischen, rechtsphilosophischen und juristischen Argumente zu dem Ergebnis, dass die Urteile des BVerfG weder rational noch evidenzbasiert noch weltanschaulich neutral begründet waren. Mit logisch konsistenten Gründen, so führt er unter Verweis auf empirische Forschungsergebnisse aus, könne der Gesetzgeber allenfalls verfügen, „dass Spätabtreibungen nur in Ausnahmefällen zulässig sind, um entwickelten Föten Leid zu ersparen“, derartige Gründe lägen aber nicht vor, „wenn der Staat bewusstseins- und empfindungsunfähigen Embryonen und Blastozysten ‚ein eigenes Recht auf Leben‘ einräumt und dieses vermeintliche ‚Recht‘ gegen die Selbstbestimmungsrechte der Frauen ausspielt.“
Betrachtet man § 219a StGB im „Gesamtkontext der deutschen Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch“, so wird deutlich, dass der umstrittene Paragraf seit Jahrzehnten nicht nur gegen Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit) sowie gegen Art. 5 Abs. 1 GG (Meinungsfreiheit) verstoßen hat, sondern mittelbar auch gegen Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde), Art. 2 Abs 1 und 2 GG (freie Entfaltung der Persönlichkeit und Verbot der Körperverletzung) und Art. 3 Abs. 1–3 GG (Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichheit von Mann und Frau, Verbot von Diskriminierungen aufgrund von religiösen/weltanschaulichen oder politischen Anschauungen). Würde das Bundesverfassungsgericht der Argumentation der gbs- und HAI-Stellungnahme folgen, müsste es somit nicht nur § 219a StGB als verfassungswidrig verwerfen, sondern zugleich auch die §§ 218 ff. StGB, die das Abtreibungsrecht in Deutschland bestimmen.
Die Folgen der Kriminalisierung
des Schwangerschaftsabbruchs
Besonderes Gewicht legt die Stellungnahme auf die Schilderung der lebenspraktischen Konsequenzen, die aus der Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs resultieren. Denn die eigentümliche Rechtskonstruktion, dass der Schwangerschaftsabbruch nach dem Beratungskonzept zwar straffrei ist, aber dennoch als „rechtswidrig“ gilt, hat zur Folge, dass die Abtreibung nicht als kassenärztliche Leistung anerkannt ist und ungewollt schwangere Frauen sich einer Zwangsberatung unterziehen müssen, die nach dem Wortlaut von § 219 StGB darauf abzielt, den betroffenen Frauen eine „zumutbare Opfergrenze“ abzuverlangen. Wie die in der Stellungnahme zitierten Erfahrungsberichte zeigen (Schmidt-Salomon greift hier u.a. auf eine unlängst veröffentlichte Studie des CORRECTIV-Netzwerks zurück), halten sich einige Beratungsstellen und Krankenkassen offenbar strikt an die anti-feministischen Vorgaben des Gesetzes, was viele Frauen als äußerst demütigend erleben.
Starker Druck lastet auch auf den Ärztinnen und Ärzten, die ungewollt schwangeren Frauen zur Seite stehen. Schließlich begehen sie unter der aktuellen Gesetzeslage eine „rechtswidrige Handlung“. Schlimmer noch: Militante Abtreibungsgegner können sich, wie die Stellungnahme nachweist, sogar auf Argumente des Bundesverfassungsgerichts berufen, wenn sie in volksverhetzender Weise den Holocaust mit dem Schwangerschaftsabbruch („Babycaust“) vergleichen und Ärztinnen und Ärzte unter Druck setzen. Angesichts solcher Rahmenbedingungen muss man sich nicht darüber wundern, dass das Angebot an Kliniken und Praxen, die in Deutschland Schwangerschaftsabbrüche anbieten, seit 2003 um 46 Prozent gesunken ist und ungewollt schwangere Frauen immer größere Nöte haben, geeignete Ärztinnen und Ärzte in ihrer Umgebung zu finden.
Die Chance, Rechtsgeschichte zu schreiben
Mit Blick auf diese Missstände heißt es in der Stellungnahme, dass die Verfassungsbeschwerde von Kristina Hänel den Karlsruher Richterinnen und Richtern die Chance bietet, „Rechtsgeschichte zu schreiben“: „Sie könnten das höchste deutsche Gericht von dem Makel zweier verfassungswidriger Urteile befreien, die ein kirchlich geprägtes ‚Sittengesetz‘ höher gewichteten als die Selbstbestimmungsrechte der Frau.“ Schmidt-Salomon verweist in diesem Zusammenhang auch auf die veränderten Werthaltungen in der Gesellschaft: „Schon heute glaubt nur noch ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung an eine natürliche ‚Schöpfungsordnung‘, auf die sich das BVerfG noch 1975 berief, um sein ‚Unwerturteil‘ über den Schwangerschaftsabbruch zu stützen. Aufgeklärten Menschen leuchtet es nicht mehr ein, weshalb ein eingenistetes Keimbläschen (Blastozyste) ‚Menschenwürde‘ besitzen soll.“
Im abschließenden Fazit fasst Schmidt-Salomon die Kernargumente der Stellungnahme prägnant zusammen. Dort heißt es unter anderem:
Die Würde der Frau ist antastbar – und wird in Deutschland tagtäglich angetastet. Frauen, die sich gegen eine begonnene Schwangerschaft entscheiden, werden systematisch bevormundet, gedemütigt, erniedrigt. Ihre Grundrechte werden beschnitten, weil der Staat sich noch immer nicht von der vordemokratischen, anti-emanzipatorischen Haltung verabschiedet hat, es sei rechtens, ungewollt schwangeren Frauen eine „zumutbare Opfergrenze“ abzuverlangen und über ihre Körper zu verfügen.
Ermöglicht wird diese Grundrechtsbeschneidung durch eine weder empirisch noch ethisch noch juristisch zu rechtfertigende Aufwertung der „Rechte“ des „ungeborenen Lebens“, die zu einer äquivalenten Abwertung der Rechte ungewollt schwangerer Frauen geführt hat. (…) Einigermaßen konsistent begründbar war diese Auffassung nur mit dem Konzept der „Simultanbeseelung“, das Papst Pius IX. im Jahr 1869 – zwei Jahre vor der Aufnahme der §§ 218 ff. ins Strafgesetzbuch – zu einer kirchenrechtlich verbindlichen „Glaubens-Wahrheit“ erhoben hatte. (…) Die Senatsmehrheit behauptete, der zeitlich unbegrenzte Schutz des „ungeborenen Lebens“ gelte „unabhängig von bestimmten religiösen oder philosophischen Überzeugungen“. Tatsächlich aber gilt er eben nicht für (konfessionsfreie) Menschen, die religiöse Beseelungskonzepte per se ablehnen (inzwischen die Mehrheit in Deutschland), er gilt nicht einmal für gläubige Christen, die – trotz Pius IX. – am Konzept der „Sukzessivbeseelung“ festhalten, er gilt auch nicht für gläubige Juden, für die das menschliche Leben erst mit der Geburt beginnt, oder für gläubige Muslime, für die der Fötus erst ab dem 120. Tag der Schwangerschaft „beseelt“ ist.
(…) Die Frauenbewegung kämpft nun schon seit mehr als 150 Jahren gegen die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs – und hat dabei Positionen in die gesellschaftliche Debatte eingebracht, die durch die logisch unzulässigen Argumente, auf die das BVerfG zurückgegriffen hat, nicht zu entkräften sind (…) Ob sich eine Frau für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch entscheidet, liegt allein in ihrem eigenen Ermessen. Diese Entscheidung geht den weltanschaulich neutralen Staat nichts an, denn er hat sich in den Intimbereich der Frau nicht einzumischen. Dem Staat obliegt eine gänzlich andere Aufgabe: Er muss dafür sorgen, dass die Frau würdevoll behandelt wird – gleich, wie ihre Entscheidung ausfällt. Denn dies ist nach Art. 1 Abs. 1 GG die „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“.
Um dieser Verpflichtung nachzukommen, muss nicht nur § 219a StGB fallen, sondern die gesamte Gesetzgebung, in die er eingebettet war. Hierzu allerdings ist ein erneuter Urteilsspruch aus Karlsruhe erforderlich. Dieser sollte, sofern die Argumente der vorliegenden Stellungnahme zutreffend sind, zu folgendem Ergebnis kommen: Der Schwangerschaftsabbruch war auf dem Boden des deutschen Grundgesetzes niemals rechtswidrig, rechtswidrig war vielmehr der „Gebärzwang“, dem sich Frauen unterwerfen mussten. Ein solch eklatanter Verstoß gegen die Würde der Frau hätte niemals stattfinden dürfen.
Die Notwendigkeit einer öffentlichen Debatte
Die Giordano-Bruno-Stiftung und das Hans-Albert-Institut haben die in Karlsruhe eingereichte Stellungnahme nun in Form einer Broschüre herausgebracht, so dass die Argumente, die aus Sicht der gbs und des HAI gegen die aktuelle Gesetzeslage sprechen, öffentlich diskutiert werden können. Eine breite öffentliche Debatte ist nicht zuletzt auch deshalb notwendig, weil die Bundesregierung laut Koalitionsvertrag eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung einsetzen möchte, die mögliche „Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches“ prüfen soll.
Die gbs- und HAI-Stellungnahme wurde für die Veröffentlichung neu layoutet, folgt aber vollumfänglich dem Wortlaut des beim Bundesverfassungsgericht eingereichten Dokuments. Alle Interessierten können die Broschüre „Schwangerschaftsabbruch im liberalen Rechtsstaat“ ab sofort von der gbs- bzw. der HAI-Website herunterladen (gbs-Website / HAI-Website). Für den Einsatz in der politischen Arbeit ist es zudem möglich, die Printversion der Broschüre kostenfrei beim gbs-Sekretariat zu bestellen.
Nicht nur § 219a StGB ist verfassungswidrig, sondern die gesamte deutsche Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch. Dies ist das Ergebnis einer Stellungnahme, die das Hans-Albert-Institut und die Giordano-Bruno-Stiftung zur Verfassungsbeschwerde der Ärztin Kristina Hänel in Karlsruhe eingereicht haben.
Eigentlich soll es in dem Verfahren zur Verfassungsbeschwerde von Kristina Hänel nur um § 219a StGB gehen, der es Ärztinnen und Ärzten viele Jahrzehnte lang verbot, Informationen zum Schwangerschaftsabbruch öffentlich bereitzustellen. Doch die von HAI-Direktoriumsmitglied und gbs-Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon formulierte Stellungnahme zeigt auf, dass § 219a StGB nur im Kontext der Gesetzgebung betrachtet werden kann, in die er eingebettet ist. Denn nur vor dem Hintergrund des generellen „Unwerturteils“ über den Schwangerschaftsabbruch konnte es überhaupt als rechtmäßig erscheinen, die Meinungs- und Berufsfreiheit von Ärztinnen und Ärzten einzuschränken.
Schwerwiegende Grundrechtsverstöße
Aus diesem Grund setzt sich die Stellungnahme „Schwangerschaftsabbruch im liberalen Rechtsstaat“ ausführlich mit den beiden maßgeblichen Urteilen auseinander, mit denen das Bundesverfassungsgericht die vom Deutschen Bundestag beschlossene „Fristenlösung“ 1975 und 1993 gekippt hatte. Dabei gelangt Schmidt-Salomon unter Berücksichtigung der relevanten wissenschaftlichen, ethischen, rechtsphilosophischen und juristischen Argumente zu dem Ergebnis, dass die Urteile des BVerfG weder rational noch evidenzbasiert noch weltanschaulich neutral begründet waren. Mit logisch konsistenten Gründen, so führt er unter Verweis auf empirische Forschungsergebnisse aus, könne der Gesetzgeber allenfalls verfügen, „dass Spätabtreibungen nur in Ausnahmefällen zulässig sind, um entwickelten Föten Leid zu ersparen“, derartige Gründe lägen aber nicht vor, „wenn der Staat bewusstseins- und empfindungsunfähigen Embryonen und Blastozysten ‚ein eigenes Recht auf Leben‘ einräumt und dieses vermeintliche ‚Recht‘ gegen die Selbstbestimmungsrechte der Frauen ausspielt.“
Betrachtet man § 219a StGB im „Gesamtkontext der deutschen Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch“, so wird deutlich, dass der umstrittene Paragraf seit Jahrzehnten nicht nur gegen Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit) sowie gegen Art. 5 Abs. 1 GG (Meinungsfreiheit) verstoßen hat, sondern mittelbar auch gegen Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde), Art. 2 Abs 1 und 2 GG (freie Entfaltung der Persönlichkeit und Verbot der Körperverletzung) und Art. 3 Abs. 1–3 GG (Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichheit von Mann und Frau, Verbot von Diskriminierungen aufgrund von religiösen/weltanschaulichen oder politischen Anschauungen). Würde das Bundesverfassungsgericht der Argumentation der gbs- und HAI-Stellungnahme folgen, müsste es somit nicht nur § 219a StGB als verfassungswidrig verwerfen, sondern zugleich auch die §§ 218 ff. StGB, die das Abtreibungsrecht in Deutschland bestimmen.
Die Folgen der Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs
Besonderes Gewicht legt die Stellungnahme auf die Schilderung der lebenspraktischen Konsequenzen, die aus der Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs resultieren. Denn die eigentümliche Rechtskonstruktion, dass der Schwangerschaftsabbruch nach dem Beratungskonzept zwar straffrei ist, aber dennoch als „rechtswidrig“ gilt, hat zur Folge, dass die Abtreibung nicht als kassenärztliche Leistung anerkannt ist und ungewollt schwangere Frauen sich einer Zwangsberatung unterziehen müssen, die nach dem Wortlaut von § 219 StGB darauf abzielt, den betroffenen Frauen eine „zumutbare Opfergrenze“ abzuverlangen. Wie die in der Stellungnahme zitierten Erfahrungsberichte zeigen (Schmidt-Salomon greift hier u.a. auf eine unlängst veröffentlichte Studie des CORRECTIV-Netzwerks zurück), halten sich einige Beratungsstellen und Krankenkassen offenbar strikt an die anti-feministischen Vorgaben des Gesetzes, was viele Frauen als äußerst demütigend erleben.
Starker Druck lastet auch auf den Ärztinnen und Ärzten, die ungewollt schwangeren Frauen zur Seite stehen. Schließlich begehen sie unter der aktuellen Gesetzeslage eine „rechtswidrige Handlung“. Schlimmer noch: Militante Abtreibungsgegner können sich, wie die Stellungnahme nachweist, sogar auf Argumente des Bundesverfassungsgerichts berufen, wenn sie in volksverhetzender Weise den Holocaust mit dem Schwangerschaftsabbruch („Babycaust“) vergleichen und Ärztinnen und Ärzte unter Druck setzen. Angesichts solcher Rahmenbedingungen muss man sich nicht darüber wundern, dass das Angebot an Kliniken und Praxen, die in Deutschland Schwangerschaftsabbrüche anbieten, seit 2003 um 46 Prozent gesunken ist und ungewollt schwangere Frauen immer größere Nöte haben, geeignete Ärztinnen und Ärzte in ihrer Umgebung zu finden.
Die Chance, Rechtsgeschichte zu schreiben
Mit Blick auf diese Missstände heißt es in der Stellungnahme, dass die Verfassungsbeschwerde von Kristina Hänel den Karlsruher Richterinnen und Richtern die Chance bietet, „Rechtsgeschichte zu schreiben“: „Sie könnten das höchste deutsche Gericht von dem Makel zweier verfassungswidriger Urteile befreien, die ein kirchlich geprägtes ‚Sittengesetz‘ höher gewichteten als die Selbstbestimmungsrechte der Frau.“ Schmidt-Salomon verweist in diesem Zusammenhang auch auf die veränderten Werthaltungen in der Gesellschaft: „Schon heute glaubt nur noch ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung an eine natürliche ‚Schöpfungsordnung‘, auf die sich das BVerfG noch 1975 berief, um sein ‚Unwerturteil‘ über den Schwangerschaftsabbruch zu stützen. Aufgeklärten Menschen leuchtet es nicht mehr ein, weshalb ein eingenistetes Keimbläschen (Blastozyste) ‚Menschenwürde‘ besitzen soll.“
Im abschließenden Fazit fasst Schmidt-Salomon die Kernargumente der Stellungnahme prägnant zusammen. Dort heißt es unter anderem:
Die Würde der Frau ist antastbar – und wird in Deutschland tagtäglich angetastet. Frauen, die sich gegen eine begonnene Schwangerschaft entscheiden, werden systematisch bevormundet, gedemütigt, erniedrigt. Ihre Grundrechte werden beschnitten, weil der Staat sich noch immer nicht von der vordemokratischen, anti-emanzipatorischen Haltung verabschiedet hat, es sei rechtens, ungewollt schwangeren Frauen eine „zumutbare Opfergrenze“ abzuverlangen und über ihre Körper zu verfügen.
Ermöglicht wird diese Grundrechtsbeschneidung durch eine weder empirisch noch ethisch noch juristisch zu rechtfertigende Aufwertung der „Rechte“ des „ungeborenen Lebens“, die zu einer äquivalenten Abwertung der Rechte ungewollt schwangerer Frauen geführt hat. (…) Einigermaßen konsistent begründbar war diese Auffassung nur mit dem Konzept der „Simultanbeseelung“, das Papst Pius IX. im Jahr 1869 – zwei Jahre vor der Aufnahme der §§ 218 ff. ins Strafgesetzbuch – zu einer kirchenrechtlich verbindlichen „Glaubens-Wahrheit“ erhoben hatte. (…) Die Senatsmehrheit behauptete, der zeitlich unbegrenzte Schutz des „ungeborenen Lebens“ gelte „unabhängig von bestimmten religiösen oder philosophischen Überzeugungen“. Tatsächlich aber gilt er eben nicht für (konfessionsfreie) Menschen, die religiöse Beseelungskonzepte per se ablehnen (inzwischen die Mehrheit in Deutschland), er gilt nicht einmal für gläubige Christen, die – trotz Pius IX. – am Konzept der „Sukzessivbeseelung“ festhalten, er gilt auch nicht für gläubige Juden, für die das menschliche Leben erst mit der Geburt beginnt, oder für gläubige Muslime, für die der Fötus erst ab dem 120. Tag der Schwangerschaft „beseelt“ ist.
(…) Die Frauenbewegung kämpft nun schon seit mehr als 150 Jahren gegen die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs – und hat dabei Positionen in die gesellschaftliche Debatte eingebracht, die durch die logisch unzulässigen Argumente, auf die das BVerfG zurückgegriffen hat, nicht zu entkräften sind (…) Ob sich eine Frau für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch entscheidet, liegt allein in ihrem eigenen Ermessen. Diese Entscheidung geht den weltanschaulich neutralen Staat nichts an, denn er hat sich in den Intimbereich der Frau nicht einzumischen. Dem Staat obliegt eine gänzlich andere Aufgabe: Er muss dafür sorgen, dass die Frau würdevoll behandelt wird – gleich, wie ihre Entscheidung ausfällt. Denn dies ist nach Art. 1 Abs. 1 GG die „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“.
Um dieser Verpflichtung nachzukommen, muss nicht nur § 219a StGB fallen, sondern die gesamte Gesetzgebung, in die er eingebettet war. Hierzu allerdings ist ein erneuter Urteilsspruch aus Karlsruhe erforderlich. Dieser sollte, sofern die Argumente der vorliegenden Stellungnahme zutreffend sind, zu folgendem Ergebnis kommen: Der Schwangerschaftsabbruch war auf dem Boden des deutschen Grundgesetzes niemals rechtswidrig, rechtswidrig war vielmehr der „Gebärzwang“, dem sich Frauen unterwerfen mussten. Ein solch eklatanter Verstoß gegen die Würde der Frau hätte niemals stattfinden dürfen.
Die Notwendigkeit einer öffentlichen Debatte
Die Giordano-Bruno-Stiftung und das Hans-Albert-Institut haben die in Karlsruhe eingereichte Stellungnahme nun in Form einer Broschüre herausgebracht, so dass die Argumente, die aus Sicht der gbs und des HAI gegen die aktuelle Gesetzeslage sprechen, öffentlich diskutiert werden können. Eine breite öffentliche Debatte ist nicht zuletzt auch deshalb notwendig, weil die Bundesregierung laut Koalitionsvertrag eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung einsetzen möchte, die mögliche „Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches“ prüfen soll.
Die gbs- und HAI-Stellungnahme wurde für die Veröffentlichung neu layoutet, folgt aber vollumfänglich dem Wortlaut des beim Bundesverfassungsgericht eingereichten Dokuments. Alle Interessierten können die Broschüre „Schwangerschaftsabbruch im liberalen Rechtsstaat“ ab sofort von der gbs- bzw. der HAI-Website herunterladen (gbs-Website / HAI-Website). Für den Einsatz in der politischen Arbeit ist es zudem möglich, die Printversion der Broschüre kostenfrei beim gbs-Sekretariat zu bestellen.
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