STELLUNGNAHME

Schwangerschaftsabbruch im liberalen Rechtsstaat

STELLUNGNAHME  •  5. APRIL 2022

Schwangerschaftsabbruch
im liberalen Rechtsstaat

Nicht nur § 219a StGB ist ver­fas­sungs­wid­rig, son­dern die gesam­te deut­sche Gesetz­ge­bung zum Schwan­ger­schafts­ab­bruch. Dies ist das Ergeb­nis einer Stel­lung­nah­me, die das Hans-Albert-Insti­tut und die Gior­da­no-Bru­no-Stif­tung zur Ver­fas­sungs­be­schwer­de der Ärz­tin Kris­ti­na Hänel in Karls­ru­he ein­ge­reicht haben.

Eigent­lich soll es in dem Ver­fah­ren zur Ver­fas­sungs­be­schwer­de von Kris­ti­na Hänel nur um § 219a StGB gehen, der es Ärz­tin­nen und Ärz­ten vie­le Jahr­zehn­te lang ver­bot, Infor­ma­tio­nen zum Schwan­ger­schafts­ab­bruch öffent­lich bereit­zu­stel­len. Doch die von HAI-Direk­to­ri­ums­mit­glied und gbs-Vor­stands­spre­cher Micha­el Schmidt-Salo­mon for­mu­lier­te Stel­lung­nah­me zeigt auf, dass § 219a StGB nur im Kon­text der Gesetz­ge­bung betrach­tet wer­den kann, in die er ein­ge­bet­tet ist. Denn nur vor dem Hin­ter­grund des gene­rel­len „Unwert­ur­teils“ über den Schwan­ger­schafts­ab­bruch konn­te es über­haupt als recht­mä­ßig erschei­nen, die Mei­nungs- und Berufs­frei­heit von Ärz­tin­nen und Ärz­ten einzuschränken.

Schwerwiegende Grundrechtsverstöße

Aus die­sem Grund setzt sich die Stel­lung­nah­me „Schwan­ger­schafts­ab­bruch im libe­ra­len Rechts­staat“ aus­führ­lich mit den bei­den maß­geb­li­chen Urtei­len aus­ein­an­der, mit denen das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt die vom Deut­schen Bun­des­tag beschlos­se­ne „Fris­ten­lö­sung“ 1975 und 1993 gekippt hat­te. Dabei gelangt Schmidt-Salo­mon unter Berück­sich­ti­gung der rele­van­ten wis­sen­schaft­li­chen, ethi­schen, rechts­phi­lo­so­phi­schen und juris­ti­schen Argu­men­te zu dem Ergeb­nis, dass die Urtei­le des BVerfG weder ratio­nal noch evi­denz­ba­siert noch welt­an­schau­lich neu­tral begrün­det waren. Mit logisch kon­sis­ten­ten Grün­den, so führt er unter Ver­weis auf empi­ri­sche For­schungs­er­geb­nis­se aus, kön­ne der Gesetz­ge­ber allen­falls ver­fü­gen, „dass Spät­ab­trei­bun­gen nur in Aus­nah­me­fäl­len zuläs­sig sind, um ent­wi­ckel­ten Föten Leid zu erspa­ren“, der­ar­ti­ge Grün­de lägen aber nicht vor, „wenn der Staat bewusst­seins- und emp­fin­dungs­un­fä­hi­gen Embryo­nen und Blas­to­zys­ten ‚ein eige­nes Recht auf Leben‘ ein­räumt und die­ses ver­meint­li­che ‚Recht‘ gegen die Selbst­be­stim­mungs­rech­te der Frau­en ausspielt.“

Betrach­tet man § 219a StGB im „Gesamt­kon­text der deut­schen Gesetz­ge­bung zum Schwan­ger­schafts­ab­bruch“, so wird deut­lich, dass der umstrit­te­ne Para­graf seit Jahr­zehn­ten nicht nur gegen Art. 12 Abs. 1 GG (Berufs­frei­heit) sowie gegen Art. 5 Abs. 1 GG (Mei­nungs­frei­heit) ver­sto­ßen hat, son­dern mit­tel­bar auch gegen Art. 1 Abs. 1 GG (Men­schen­wür­de), Art. 2 Abs 1 und 2 GG (freie Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit und Ver­bot der Kör­per­ver­let­zung) und Art. 3 Abs. 1–3 GG (Gleich­heit vor dem Gesetz, Gleich­heit von Mann und Frau, Ver­bot von Dis­kri­mi­nie­run­gen auf­grund von religiösen/weltanschaulichen oder poli­ti­schen Anschau­un­gen). Wür­de das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt der Argu­men­ta­ti­on der gbs- und HAI-Stel­lung­nah­me fol­gen, müss­te es somit nicht nur § 219a StGB als ver­fas­sungs­wid­rig ver­wer­fen, son­dern zugleich auch die §§ 218 ff. StGB, die das Abtrei­bungs­recht in Deutsch­land bestimmen.

Die Folgen der Kriminalisierung
des Schwangerschaftsabbruchs

Beson­de­res Gewicht legt die Stel­lung­nah­me auf die Schil­de­rung der lebens­prak­ti­schen Kon­se­quen­zen, die aus der Kri­mi­na­li­sie­rung des Schwan­ger­schafts­ab­bruchs resul­tie­ren. Denn die eigen­tüm­li­che Rechts­kon­struk­ti­on, dass der Schwan­ger­schafts­ab­bruch nach dem Bera­tungs­kon­zept zwar straf­frei ist, aber den­noch als „rechts­wid­rig“ gilt, hat zur Fol­ge, dass die Abtrei­bung nicht als kas­sen­ärzt­li­che Leis­tung aner­kannt ist und unge­wollt schwan­ge­re Frau­en sich einer Zwangs­be­ra­tung unter­zie­hen müs­sen, die nach dem Wort­laut von § 219 StGB dar­auf abzielt, den betrof­fe­nen Frau­en eine „zumut­ba­re Opfer­gren­ze“ abzu­ver­lan­gen. Wie die in der Stel­lung­nah­me zitier­ten Erfah­rungs­be­rich­te zei­gen (Schmidt-Salo­mon greift hier u.a. auf eine unlängst ver­öf­fent­lich­te Stu­die des COR­REC­TIV-Netz­werks zurück), hal­ten sich eini­ge Bera­tungs­stel­len und Kran­ken­kas­sen offen­bar strikt an die anti-femi­nis­ti­schen Vor­ga­ben des Geset­zes, was vie­le Frau­en als äußerst demü­ti­gend erleben.

Star­ker Druck las­tet auch auf den Ärz­tin­nen und Ärz­ten, die unge­wollt schwan­ge­ren Frau­en zur Sei­te ste­hen. Schließ­lich bege­hen sie unter der aktu­el­len Geset­zes­la­ge eine „rechts­wid­ri­ge Hand­lung“. Schlim­mer noch: Mili­tan­te Abtrei­bungs­geg­ner kön­nen sich, wie die Stel­lung­nah­me nach­weist, sogar auf Argu­men­te des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts beru­fen, wenn sie in volks­ver­het­zen­der Wei­se den Holo­caust mit dem Schwan­ger­schafts­ab­bruch („Baby­caust“) ver­glei­chen und Ärz­tin­nen und Ärz­te unter Druck set­zen. Ange­sichts sol­cher Rah­men­be­din­gun­gen muss man sich nicht dar­über wun­dern, dass das Ange­bot an Kli­ni­ken und Pra­xen, die in Deutsch­land Schwan­ger­schafts­ab­brü­che anbie­ten, seit 2003 um 46 Pro­zent gesun­ken ist und unge­wollt schwan­ge­re Frau­en immer grö­ße­re Nöte haben, geeig­ne­te Ärz­tin­nen und Ärz­te in ihrer Umge­bung zu finden.

Die Chance, Rechtsgeschichte zu schreiben

Mit Blick auf die­se Miss­stän­de heißt es in der Stel­lung­nah­me, dass die Ver­fas­sungs­be­schwer­de von Kris­ti­na Hänel den Karls­ru­her Rich­te­rin­nen und Rich­tern die Chan­ce bie­tet, „Rechts­ge­schich­te zu schrei­ben“: „Sie könn­ten das höchs­te deut­sche Gericht von dem Makel zwei­er ver­fas­sungs­wid­ri­ger Urtei­le befrei­en, die ein kirch­lich gepräg­tes ‚Sit­ten­ge­setz‘ höher gewich­te­ten als die Selbst­be­stim­mungs­rech­te der Frau.“ Schmidt-Salo­mon ver­weist in die­sem Zusam­men­hang auch auf die ver­än­der­ten Wert­hal­tun­gen in der Gesell­schaft: „Schon heu­te glaubt nur noch ein ver­schwin­dend klei­ner Teil der Bevöl­ke­rung an eine natür­li­che ‚Schöp­fungs­ord­nung‘, auf die sich das BVerfG noch 1975 berief, um sein ‚Unwert­ur­teil‘ über den Schwan­ger­schafts­ab­bruch zu stüt­zen. Auf­ge­klär­ten Men­schen leuch­tet es nicht mehr ein, wes­halb ein ein­ge­nis­te­tes Keim­bläs­chen (Blas­to­zys­te) ‚Men­schen­wür­de‘ besit­zen soll.“

Im abschlie­ßen­den Fazit fasst Schmidt-Salo­mon die Kern­ar­gu­men­te der Stel­lung­nah­me prä­gnant zusam­men. Dort heißt es unter anderem:

Die Wür­de der Frau ist antast­bar – und wird in Deutsch­land tag­täg­lich ange­tas­tet. Frau­en, die sich gegen eine begon­ne­ne Schwan­ger­schaft ent­schei­den, wer­den sys­te­ma­tisch bevor­mun­det, gede­mü­tigt, ernied­rigt. Ihre Grund­rech­te wer­den beschnit­ten, weil der Staat sich noch immer nicht von der vor­de­mo­kra­ti­schen, anti-eman­zi­pa­to­ri­schen Hal­tung ver­ab­schie­det hat, es sei rech­tens, unge­wollt schwan­ge­ren Frau­en eine „zumut­ba­re Opfer­gren­ze“ abzu­ver­lan­gen und über ihre Kör­per zu verfügen.

Ermög­licht wird die­se Grund­rechts­be­schnei­dung durch eine weder empi­risch noch ethisch noch juris­tisch zu recht­fer­ti­gen­de Auf­wer­tung der „Rech­te“ des „unge­bo­re­nen Lebens“, die zu einer äqui­va­len­ten Abwer­tung der Rech­te unge­wollt schwan­ge­rer Frau­en geführt hat. (…) Eini­ger­ma­ßen kon­sis­tent begründ­bar war die­se Auf­fas­sung nur mit dem Kon­zept der „Simul­tan­be­see­lung“, das Papst Pius IX. im Jahr 1869 – zwei Jah­re vor der Auf­nah­me der §§ 218 ff. ins Straf­ge­setz­buch – zu einer kir­chen­recht­lich ver­bind­li­chen „Glau­bens-Wahr­heit“ erho­ben hat­te. (…) Die Senats­mehr­heit behaup­te­te, der zeit­lich unbe­grenz­te Schutz des „unge­bo­re­nen Lebens“ gel­te „unab­hän­gig von bestimm­ten reli­giö­sen oder phi­lo­so­phi­schen Über­zeu­gun­gen“. Tat­säch­lich aber gilt er eben nicht für (kon­fes­si­ons­freie) Men­schen, die reli­giö­se Besee­lungs­kon­zep­te per se ableh­nen (inzwi­schen die Mehr­heit in Deutsch­land), er gilt nicht ein­mal für gläu­bi­ge Chris­ten, die – trotz Pius IX. – am Kon­zept der „Suk­zes­siv­be­see­lung“ fest­hal­ten, er gilt auch nicht für gläu­bi­ge Juden, für die das mensch­li­che Leben erst mit der Geburt beginnt, oder für gläu­bi­ge Mus­li­me, für die der Fötus erst ab dem 120. Tag der Schwan­ger­schaft „beseelt“ ist.

(…) Die Frau­en­be­we­gung kämpft nun schon seit mehr als 150 Jah­ren gegen die Kri­mi­na­li­sie­rung des Schwan­ger­schafts­ab­bruchs – und hat dabei Posi­tio­nen in die gesell­schaft­li­che Debat­te ein­ge­bracht, die durch die logisch unzu­läs­si­gen Argu­men­te, auf die das BVerfG zurück­ge­grif­fen hat, nicht zu ent­kräf­ten sind (…) Ob sich eine Frau für oder gegen einen Schwan­ger­schafts­ab­bruch ent­schei­det, liegt allein in ihrem eige­nen Ermes­sen. Die­se Ent­schei­dung geht den welt­an­schau­lich neu­tra­len Staat nichts an, denn er hat sich in den Intim­be­reich der Frau nicht ein­zu­mi­schen. Dem Staat obliegt eine gänz­lich ande­re Auf­ga­be: Er muss dafür sor­gen, dass die Frau wür­de­voll behan­delt wird – gleich, wie ihre Ent­schei­dung aus­fällt. Denn dies ist nach Art. 1 Abs. 1 GG die „Ver­pflich­tung aller staat­li­chen Gewalt“.

Um die­ser Ver­pflich­tung nach­zu­kom­men, muss nicht nur § 219a StGB fal­len, son­dern die gesam­te Gesetz­ge­bung, in die er ein­ge­bet­tet war. Hier­zu aller­dings ist ein erneu­ter Urteils­spruch aus Karls­ru­he erfor­der­lich. Die­ser soll­te, sofern die Argu­men­te der vor­lie­gen­den Stel­lung­nah­me zutref­fend sind, zu fol­gen­dem Ergeb­nis kom­men: Der Schwan­ger­schafts­ab­bruch war auf dem Boden des deut­schen Grund­ge­set­zes nie­mals rechts­wid­rig, rechts­wid­rig war viel­mehr der „Geb­ärzwang“, dem sich Frau­en unter­wer­fen muss­ten. Ein solch ekla­tan­ter Ver­stoß gegen die Wür­de der Frau hät­te nie­mals statt­fin­den dürfen.

Die Notwendigkeit einer öffentlichen Debatte

Die Gior­da­no-Bru­no-Stif­tung und das Hans-Albert-Insti­tut haben die in Karls­ru­he ein­ge­reich­te Stel­lung­nah­me nun in Form einer Bro­schü­re her­aus­ge­bracht, so dass die Argu­men­te, die aus Sicht der gbs und des HAI gegen die aktu­el­le Geset­zes­la­ge spre­chen, öffent­lich dis­ku­tiert wer­den kön­nen. Eine brei­te öffent­li­che Debat­te ist nicht zuletzt auch des­halb not­wen­dig, weil die Bun­des­re­gie­rung laut Koali­ti­ons­ver­trag eine Kom­mis­si­on zur repro­duk­ti­ven Selbst­be­stim­mung ein­set­zen möch­te, die mög­li­che „Regu­lie­run­gen für den Schwan­ger­schafts­ab­bruch außer­halb des Straf­ge­setz­bu­ches“ prü­fen soll.

Die gbs- und HAI-Stel­lung­nah­me wur­de für die Ver­öf­fent­li­chung neu lay­ou­tet, folgt aber voll­um­fäng­lich dem Wort­laut des beim Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt ein­ge­reich­ten Doku­ments. Alle Inter­es­sier­ten kön­nen die Bro­schü­re „Schwan­ger­schafts­ab­bruch im libe­ra­len Rechts­staat“ ab sofort von der gbs- bzw. der HAI-Web­site her­un­ter­la­den (gbs-Web­site / HAI-Web­site). Für den Ein­satz in der poli­ti­schen Arbeit ist es zudem mög­lich, die Print­ver­si­on der Bro­schü­re kos­ten­frei beim gbs-Sekre­ta­ri­at zu bestel­len.

Nicht nur § 219a StGB ist ver­fas­sungs­wid­rig, son­dern die gesam­te deut­sche Gesetz­ge­bung zum Schwan­ger­schafts­ab­bruch. Dies ist das Ergeb­nis einer Stel­lung­nah­me, die das Hans-Albert-Insti­tut und die Gior­da­no-Bru­no-Stif­tung zur Ver­fas­sungs­be­schwer­de der Ärz­tin Kris­ti­na Hänel in Karls­ru­he ein­ge­reicht haben. 

Eigent­lich soll es in dem Ver­fah­ren zur Ver­fas­sungs­be­schwer­de von Kris­ti­na Hänel nur um § 219a StGB gehen, der es Ärz­tin­nen und Ärz­ten vie­le Jahr­zehn­te lang ver­bot, Infor­ma­tio­nen zum Schwan­ger­schafts­ab­bruch öffent­lich bereit­zu­stel­len. Doch die von HAI-Direk­to­ri­ums­mit­glied und gbs-Vor­stands­spre­cher Micha­el Schmidt-Salo­mon for­mu­lier­te Stel­lung­nah­me zeigt auf, dass § 219a StGB nur im Kon­text der Gesetz­ge­bung betrach­tet wer­den kann, in die er ein­ge­bet­tet ist. Denn nur vor dem Hin­ter­grund des gene­rel­len „Unwert­ur­teils“ über den Schwan­ger­schafts­ab­bruch konn­te es über­haupt als recht­mä­ßig erschei­nen, die Mei­nungs- und Berufs­frei­heit von Ärz­tin­nen und Ärz­ten einzuschränken.

Schwerwiegende Grundrechtsverstöße

Aus die­sem Grund setzt sich die Stel­lung­nah­me „Schwan­ger­schafts­ab­bruch im libe­ra­len Rechts­staat“ aus­führ­lich mit den bei­den maß­geb­li­chen Urtei­len aus­ein­an­der, mit denen das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt die vom Deut­schen Bun­des­tag beschlos­se­ne „Fris­ten­lö­sung“ 1975 und 1993 gekippt hat­te. Dabei gelangt Schmidt-Salo­mon unter Berück­sich­ti­gung der rele­van­ten wis­sen­schaft­li­chen, ethi­schen, rechts­phi­lo­so­phi­schen und juris­ti­schen Argu­men­te zu dem Ergeb­nis, dass die Urtei­le des BVerfG weder ratio­nal noch evi­denz­ba­siert noch welt­an­schau­lich neu­tral begrün­det waren. Mit logisch kon­sis­ten­ten Grün­den, so führt er unter Ver­weis auf empi­ri­sche For­schungs­er­geb­nis­se aus, kön­ne der Gesetz­ge­ber allen­falls ver­fü­gen, „dass Spät­ab­trei­bun­gen nur in Aus­nah­me­fäl­len zuläs­sig sind, um ent­wi­ckel­ten Föten Leid zu erspa­ren“, der­ar­ti­ge Grün­de lägen aber nicht vor, „wenn der Staat bewusst­seins- und emp­fin­dungs­un­fä­hi­gen Embryo­nen und Blas­to­zys­ten ‚ein eige­nes Recht auf Leben‘ ein­räumt und die­ses ver­meint­li­che ‚Recht‘ gegen die Selbst­be­stim­mungs­rech­te der Frau­en ausspielt.“

Betrach­tet man § 219a StGB im „Gesamt­kon­text der deut­schen Gesetz­ge­bung zum Schwan­ger­schafts­ab­bruch“, so wird deut­lich, dass der umstrit­te­ne Para­graf seit Jahr­zehn­ten nicht nur gegen Art. 12 Abs. 1 GG (Berufs­frei­heit) sowie gegen Art. 5 Abs. 1 GG (Mei­nungs­frei­heit) ver­sto­ßen hat, son­dern mit­tel­bar auch gegen Art. 1 Abs. 1 GG (Men­schen­wür­de), Art. 2 Abs 1 und 2 GG (freie Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit und Ver­bot der Kör­per­ver­let­zung) und Art. 3 Abs. 1–3 GG (Gleich­heit vor dem Gesetz, Gleich­heit von Mann und Frau, Ver­bot von Dis­kri­mi­nie­run­gen auf­grund von religiösen/weltanschaulichen oder poli­ti­schen Anschau­un­gen). Wür­de das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt der Argu­men­ta­ti­on der gbs- und HAI-Stel­lung­nah­me fol­gen, müss­te es somit nicht nur § 219a StGB als ver­fas­sungs­wid­rig ver­wer­fen, son­dern zugleich auch die §§ 218 ff. StGB, die das Abtrei­bungs­recht in Deutsch­land bestimmen.

Die Folgen der Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs

Beson­de­res Gewicht legt die Stel­lung­nah­me auf die Schil­de­rung der lebens­prak­ti­schen Kon­se­quen­zen, die aus der Kri­mi­na­li­sie­rung des Schwan­ger­schafts­ab­bruchs resul­tie­ren. Denn die eigen­tüm­li­che Rechts­kon­struk­ti­on, dass der Schwan­ger­schafts­ab­bruch nach dem Bera­tungs­kon­zept zwar straf­frei ist, aber den­noch als „rechts­wid­rig“ gilt, hat zur Fol­ge, dass die Abtrei­bung nicht als kas­sen­ärzt­li­che Leis­tung aner­kannt ist und unge­wollt schwan­ge­re Frau­en sich einer Zwangs­be­ra­tung unter­zie­hen müs­sen, die nach dem Wort­laut von § 219 StGB dar­auf abzielt, den betrof­fe­nen Frau­en eine „zumut­ba­re Opfer­gren­ze“ abzu­ver­lan­gen. Wie die in der Stel­lung­nah­me zitier­ten Erfah­rungs­be­rich­te zei­gen (Schmidt-Salo­mon greift hier u.a. auf eine unlängst ver­öf­fent­lich­te Stu­die des COR­REC­TIV-Netz­werks zurück), hal­ten sich eini­ge Bera­tungs­stel­len und Kran­ken­kas­sen offen­bar strikt an die anti-femi­nis­ti­schen Vor­ga­ben des Geset­zes, was vie­le Frau­en als äußerst demü­ti­gend erleben.

Star­ker Druck las­tet auch auf den Ärz­tin­nen und Ärz­ten, die unge­wollt schwan­ge­ren Frau­en zur Sei­te ste­hen. Schließ­lich bege­hen sie unter der aktu­el­len Geset­zes­la­ge eine „rechts­wid­ri­ge Hand­lung“. Schlim­mer noch: Mili­tan­te Abtrei­bungs­geg­ner kön­nen sich, wie die Stel­lung­nah­me nach­weist, sogar auf Argu­men­te des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts beru­fen, wenn sie in volks­ver­het­zen­der Wei­se den Holo­caust mit dem Schwan­ger­schafts­ab­bruch („Baby­caust“) ver­glei­chen und Ärz­tin­nen und Ärz­te unter Druck set­zen. Ange­sichts sol­cher Rah­men­be­din­gun­gen muss man sich nicht dar­über wun­dern, dass das Ange­bot an Kli­ni­ken und Pra­xen, die in Deutsch­land Schwan­ger­schafts­ab­brü­che anbie­ten, seit 2003 um 46 Pro­zent gesun­ken ist und unge­wollt schwan­ge­re Frau­en immer grö­ße­re Nöte haben, geeig­ne­te Ärz­tin­nen und Ärz­te in ihrer Umge­bung zu finden.

Die Chance, Rechtsgeschichte zu schreiben

Mit Blick auf die­se Miss­stän­de heißt es in der Stel­lung­nah­me, dass die Ver­fas­sungs­be­schwer­de von Kris­ti­na Hänel den Karls­ru­her Rich­te­rin­nen und Rich­tern die Chan­ce bie­tet, „Rechts­ge­schich­te zu schrei­ben“: „Sie könn­ten das höchs­te deut­sche Gericht von dem Makel zwei­er ver­fas­sungs­wid­ri­ger Urtei­le befrei­en, die ein kirch­lich gepräg­tes ‚Sit­ten­ge­setz‘ höher gewich­te­ten als die Selbst­be­stim­mungs­rech­te der Frau.“ Schmidt-Salo­mon ver­weist in die­sem Zusam­men­hang auch auf die ver­än­der­ten Wert­hal­tun­gen in der Gesell­schaft: „Schon heu­te glaubt nur noch ein ver­schwin­dend klei­ner Teil der Bevöl­ke­rung an eine natür­li­che ‚Schöp­fungs­ord­nung‘, auf die sich das BVerfG noch 1975 berief, um sein ‚Unwert­ur­teil‘ über den Schwan­ger­schafts­ab­bruch zu stüt­zen. Auf­ge­klär­ten Men­schen leuch­tet es nicht mehr ein, wes­halb ein ein­ge­nis­te­tes Keim­bläs­chen (Blas­to­zys­te) ‚Men­schen­wür­de‘ besit­zen soll.“

Im abschlie­ßen­den Fazit fasst Schmidt-Salo­mon die Kern­ar­gu­men­te der Stel­lung­nah­me prä­gnant zusam­men. Dort heißt es unter anderem:

Die Wür­de der Frau ist antast­bar – und wird in Deutsch­land tag­täg­lich ange­tas­tet. Frau­en, die sich gegen eine begon­ne­ne Schwan­ger­schaft ent­schei­den, wer­den sys­te­ma­tisch bevor­mun­det, gede­mü­tigt, ernied­rigt. Ihre Grund­rech­te wer­den beschnit­ten, weil der Staat sich noch immer nicht von der vor­de­mo­kra­ti­schen, anti-eman­zi­pa­to­ri­schen Hal­tung ver­ab­schie­det hat, es sei rech­tens, unge­wollt schwan­ge­ren Frau­en eine „zumut­ba­re Opfer­gren­ze“ abzu­ver­lan­gen und über ihre Kör­per zu verfügen.

Ermög­licht wird die­se Grund­rechts­be­schnei­dung durch eine weder empi­risch noch ethisch noch juris­tisch zu recht­fer­ti­gen­de Auf­wer­tung der „Rech­te“ des „unge­bo­re­nen Lebens“, die zu einer äqui­va­len­ten Abwer­tung der Rech­te unge­wollt schwan­ge­rer Frau­en geführt hat. (…) Eini­ger­ma­ßen kon­sis­tent begründ­bar war die­se Auf­fas­sung nur mit dem Kon­zept der „Simul­tan­be­see­lung“, das Papst Pius IX. im Jahr 1869 – zwei Jah­re vor der Auf­nah­me der §§ 218 ff. ins Straf­ge­setz­buch – zu einer kir­chen­recht­lich ver­bind­li­chen „Glau­bens-Wahr­heit“ erho­ben hat­te. (…) Die Senats­mehr­heit behaup­te­te, der zeit­lich unbe­grenz­te Schutz des „unge­bo­re­nen Lebens“ gel­te „unab­hän­gig von bestimm­ten reli­giö­sen oder phi­lo­so­phi­schen Über­zeu­gun­gen“. Tat­säch­lich aber gilt er eben nicht für (kon­fes­si­ons­freie) Men­schen, die reli­giö­se Besee­lungs­kon­zep­te per se ableh­nen (inzwi­schen die Mehr­heit in Deutsch­land), er gilt nicht ein­mal für gläu­bi­ge Chris­ten, die – trotz Pius IX. – am Kon­zept der „Suk­zes­siv­be­see­lung“ fest­hal­ten, er gilt auch nicht für gläu­bi­ge Juden, für die das mensch­li­che Leben erst mit der Geburt beginnt, oder für gläu­bi­ge Mus­li­me, für die der Fötus erst ab dem 120. Tag der Schwan­ger­schaft „beseelt“ ist.

(…) Die Frau­en­be­we­gung kämpft nun schon seit mehr als 150 Jah­ren gegen die Kri­mi­na­li­sie­rung des Schwan­ger­schafts­ab­bruchs – und hat dabei Posi­tio­nen in die gesell­schaft­li­che Debat­te ein­ge­bracht, die durch die logisch unzu­läs­si­gen Argu­men­te, auf die das BVerfG zurück­ge­grif­fen hat, nicht zu ent­kräf­ten sind (…) Ob sich eine Frau für oder gegen einen Schwan­ger­schafts­ab­bruch ent­schei­det, liegt allein in ihrem eige­nen Ermes­sen. Die­se Ent­schei­dung geht den welt­an­schau­lich neu­tra­len Staat nichts an, denn er hat sich in den Intim­be­reich der Frau nicht ein­zu­mi­schen. Dem Staat obliegt eine gänz­lich ande­re Auf­ga­be: Er muss dafür sor­gen, dass die Frau wür­de­voll behan­delt wird – gleich, wie ihre Ent­schei­dung aus­fällt. Denn dies ist nach Art. 1 Abs. 1 GG die „Ver­pflich­tung aller staat­li­chen Gewalt“.

Um die­ser Ver­pflich­tung nach­zu­kom­men, muss nicht nur § 219a StGB fal­len, son­dern die gesam­te Gesetz­ge­bung, in die er ein­ge­bet­tet war. Hier­zu aller­dings ist ein erneu­ter Urteils­spruch aus Karls­ru­he erfor­der­lich. Die­ser soll­te, sofern die Argu­men­te der vor­lie­gen­den Stel­lung­nah­me zutref­fend sind, zu fol­gen­dem Ergeb­nis kom­men: Der Schwan­ger­schafts­ab­bruch war auf dem Boden des deut­schen Grund­ge­set­zes nie­mals rechts­wid­rig, rechts­wid­rig war viel­mehr der „Geb­ärzwang“, dem sich Frau­en unter­wer­fen muss­ten. Ein solch ekla­tan­ter Ver­stoß gegen die Wür­de der Frau hät­te nie­mals statt­fin­den dürfen.

Die Notwendigkeit einer öffentlichen Debatte

Die Gior­da­no-Bru­no-Stif­tung und das Hans-Albert-Insti­tut haben die in Karls­ru­he ein­ge­reich­te Stel­lung­nah­me nun in Form einer Bro­schü­re her­aus­ge­bracht, so dass die Argu­men­te, die aus Sicht der gbs und des HAI gegen die aktu­el­le Geset­zes­la­ge spre­chen, öffent­lich dis­ku­tiert wer­den kön­nen. Eine brei­te öffent­li­che Debat­te ist nicht zuletzt auch des­halb not­wen­dig, weil die Bun­des­re­gie­rung laut Koali­ti­ons­ver­trag eine Kom­mis­si­on zur repro­duk­ti­ven Selbst­be­stim­mung ein­set­zen möch­te, die mög­li­che „Regu­lie­run­gen für den Schwan­ger­schafts­ab­bruch außer­halb des Straf­ge­setz­bu­ches“ prü­fen soll.

Die gbs- und HAI-Stel­lung­nah­me wur­de für die Ver­öf­fent­li­chung neu lay­ou­tet, folgt aber voll­um­fäng­lich dem Wort­laut des beim Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt ein­ge­reich­ten Doku­ments. Alle Inter­es­sier­ten kön­nen die Bro­schü­re „Schwan­ger­schafts­ab­bruch im libe­ra­len Rechts­staat“ ab sofort von der gbs- bzw. der HAI-Web­site her­un­ter­la­den (gbs-Web­site / HAI-Web­site). Für den Ein­satz in der poli­ti­schen Arbeit ist es zudem mög­lich, die Print­ver­si­on der Bro­schü­re kos­ten­frei beim gbs-Sekre­ta­ri­at zu bestel­len.

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