10. Juni 2020
Stellungnahme des Hans-Albert-Instituts und der Giordano-Bruno-Stiftung
Sterbehilfe: Keine Aushöhlung des Karlsruher Urteils!
Foto: istock.com/AndreyPopov
Inmitten der Corona-Krise hat Gesundheitsminister Jens Spahn einen Expertenkreis um Vorschläge zur Neuregelung der Suizidassistenz gebeten, der überwiegend aus einstigen Befürwortern des verfassungswidrigen § 217 StGB besteht. Die Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) und das Hans-Albert-Institut (HAI), die erst vor wenigen Tagen von dem Schreiben erfahren haben, erläutern in ihrer heute veröffentlichten Stellungnahme, wie eine alternative Regelung aussehen könnte, die dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gerecht wird.
In der Vorbemerkung des gemeinsamen Papiers, das noch vor dem Stichtag (9. Juni) beim Bundesministerium für Gesundheit eingegangen ist, bemängeln gbs und HAI die „tendenziöse Auswahl“ der Expertinnen und Experten, die vom Ministerium am 15. April 2020 angeschrieben wurden. Insgesamt wecke die Herangehensweise des Ministeriums den Verdacht einer „Closed-Shop-Mentalität“: „Während die Öffentlichkeit mit der Bewältigung der Corona-Krise beschäftigt war, konsultierte das Ministerium – von wenigen Ausnahmen abgesehen – ebenjene Expertinnen und Experten, die bereits für die Formulierung des verfassungswidrigen § 217 StGB verantwortlich zeichneten, während die kritischen Stimmen, die für die verfassungsgemäße Beachtung der individuellen Selbstbestimmungsrechte plädiert hatten, fast vollständig ausgeschlossen wurden.“
Der Staat steht in der Pflicht
Im zweiten Teil der Stellungnahme, der sich kritisch mit dem Brief des Gesundheitsministers auseinandersetzt, warnen gbs und HAI vor einer „Aushöhlung der Bestimmungen des Karlsruher Urteils“. So stehe die Forderung des Ministers, „die Freiwilligkeit, Dauerhaftigkeit und Ernsthaftigkeit des Suizidwunsches festzustellen“ im Widerspruch zur Auffassung des Bundesverfassungsgerichts. Dieses nämlich gehe von „mündigen Bürgerinnen und Bürgern“ aus, die ihr Urteilsvermögen gegenüber dem Staat nicht rechtfertigen müssten – sofern nicht eindeutige Indizien dafür vorlägen, dass ihre Freiverantwortlichkeit erheblich eingeschränkt sei. Weiterhin kritisiert die Stellungnahme: Zwar sei die Auffassung des Ministers korrekt, dass sich aus dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben „kein Anspruch gegenüber Dritten auf Suizidhilfe“ ableite, allerdings leite sich daraus sehr wohl ein „Anspruch gegenüber dem Staat ab, Suizidhilfe von Dritten nicht unverhältnismäßig zu erschweren“.
„Dieser Punkt ist für die weitere Debatte von großer Bedeutung“, betont gbs-Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon, der die Stellungnahme in Kooperation mit Mitgliedern des AK Sterbehilfe der gbs-Karlsruhe verfasst hat. „Leider vermitteln die Äußerungen des Bundesgesundheitsministers den Eindruck, dass er aus der Feststellung, niemand könne zur Suizidhilfe verpflichtet werden, die Schlussfolgerung zieht, dass auch der Staat zu keiner Hilfe verpflichtet sei. Dabei zielt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in die exakt entgegengesetzte Richtung: Gerade weil man keinen Menschen zur Suizidhilfe verpflichten kann, steht der Staat in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass seine Bürgerinnen und Bürger das Recht auf selbstbestimmtes Sterben in Anspruch nehmen können.“
Konkrete Forderungen an den Rechtsstaat
In der gbs/HAI-Stellungnahme formulieren die Verfasser sieben konkrete Forderungen, die erfüllt werden müssten, um die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in die gesellschaftliche Praxis umzusetzen. So sollte beispielsweise der vom Bundesgesundheitsminister an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ergangene Erlass, Schwerstkranken keine positiven Bescheide zum Erwerb des Betäubungsmittels Natrium-Pentobarbital zu erteilen, unverzüglich aufgehoben werden: „Eine Aufrechterhaltung der bisherigen Praxis“, heißt es in dem Papier, „müsste als strafrechtlich relevante Rechtsbeugung interpretiert werden.“
Weiterhin fordert die Stellungnahme eine Änderung der „Musterberufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte“, die mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sei, sowie eine Aufnahme der Hilfe zum Suizid in den Leistungskatalog der Krankenversicherer. Bezüglich der rechtlichen Regelungen empfehlen die Verfasser, nur in Extremfällen (Suizid durch Zwang, Drohung, Täuschung etc.) auf das Strafrecht zurückzugreifen. Zu gewährleisten wäre hierbei allerdings, „dass von etwaigen Strafmaßnahmen nicht nur unrechtmäßige Eingriffe erfasst werden, die einen Suizid zur Folge hatten, sondern auch solche Eingriffe, die einen freiverantwortlichen Suizid unrechtmäßig verhindert haben“.
Beratungsangebot statt Beratungszwang
Gleich zwei Punkte des Forderungskatalogs beschäftigen sich mit dem Thema „Suizidberatung“. Hierzu heißt es in der Stellungnahme: „Statt einem Beratungszwang, der sich verfassungsrechtlich gegenüber mündigen Bürgerinnen und Bürgern nicht begründen ließe, sollte der Staat ein möglichst breites Beratungsangebot schaffen und flächendeckend sachlich neutrale Informationen bereitstellen. (…) Persönliche Beratungen müssen sich dabei jeglicher Tendenz enthalten. Eine Beratung mit der prinzipiellen Vorgabe, den Suizid zu vermeiden oder ihn zu fördern, wäre unzulässig. Ziel der Beratung ist Klarheit für die Betroffenen – weder ein ‚Weiterleben um jeden Preis‘ noch der assistierte Suizid.“
Darüber hinaus empfehlen die Verfasser eine staatliche Förderung von freien Beratungsstellen in gemeinnütziger Trägerschaft, die mit den Betroffenen „ergebnisoffen über ihre Sterbewünsche sprechen“: „Solche ergebnisoffenen Beratungsstellen könnten nicht zuletzt auch einen maßgeblichen Beitrag zu einer effektiveren Prävention von Verzweiflungssuiziden und Verzweiflungssuizid-Versuchen leisten, da sich die Betroffenen eher an Institutionen wenden, die ihre Sterbewünsche prinzipiell respektieren, statt sie von vornherein zu pathologisieren.“ In diesem Zusammenhang habe sich das „Nationale Suizidpräventionsprogramm“ angesichts von etwa 100.000 Suizidversuchen pro Jahr in Deutschland als nicht effektiv erwiesen und bedürfe einer „grundsätzlichen Korrektur“.
Kommt es zu einem „konstruktiven Dialog“?
„Unsere Vorschläge liegen jetzt auf dem Tisch“, sagt gbs-Sprecher Michael Schmidt-Salomon. „Wir sind gespannt, ob, und wenn ja: wie das Ministerium auf unsere Argumente reagieren wird. Immerhin hat Jens Spahn in seinem Schreiben vom 15. April, von dem wir erst über Umwege im Juni erfahren haben, behauptet, er strebe einen ‚konstruktiven Dialog‘ an. Wenn es bei diesem Dialog tatsächlich darum gehen soll, ‚dass eine verfassungsmäßige Lösung gefunden wird, die auf eine breite Zustimmung in der Gesellschaft stößt‘, wie es in dem Schreiben des Ministers heißt, wäre sein Ministerium gut beraten, mehr Pluralität zu wagen!“
Andernfalls befürchtet der Philosoph eine „ewige Wiederkehr des Gleichen“: „Es wäre eine Tragödie für viele schwerstleidende Menschen, wenn es ein weiteres Mal dazu käme, dass ein hinter verschlossenen Türen entworfenes verfassungswidriges Gesetz vom Parlament beschlossen würde, das erst nach langen Verhandlungen vor dem Bundesverfassungsgericht wieder gekippt werden könnte. Ich hoffe sehr, dass die politisch Verantwortlichen aus dem Desaster des gescheiterten § 217 StGB gelernt haben – auch wenn der erste Aufschlag des Gesundheitsministers bedauerlicherweise den gegenteiligen Eindruck vermittelt hat.“
Die vollständige Stellungnahme der Giordano-Bruno-Stiftung und des Hans-Albert-Instituts wurde heute sowohl auf der Website der gbs als auch auf der Website des HAI veröffentlicht. Zudem hat sich die Giordano-Bruno-Stiftung aus Transparenzgründen dazu entschlossen, das Einladungsschreiben des Bundesgesundheitsministers vom 15. April 2020 auf ihrer Website zu publizieren.
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