3. Mai 2021

Stellungnahme des Hans-Albert-Instituts 

Triage: Wer soll zuerst behandelt werden? 

Wes­sen Leben sol­len Ärz­te ret­ten, wenn nicht mehr allen gehol­fen wer­den kann? Wel­che Kri­te­ri­en dür­fen bei der Aus­wahl her­an­ge­zo­gen wer­den, wel­che sind unzu­läs­sig? Das Hans-Albert-Insti­tut hat hier­zu eine Stel­lung­nah­me ver­öf­fent­licht, die sich aus ethi­scher Per­spek­ti­ve mit Tria­ge-Ent­schei­dun­gen aus­ein­an­der­setzt. Mög­li­che Impli­ka­tio­nen erge­ben sich dar­aus auch für die lau­fen­de Impfstrategie.

In eini­gen Staa­ten waren die Kran­ken­häu­ser wegen der vie­len Coro­na-Infek­ti­ons­fäl­le unlängst erneut über­las­tet. Beatmungs­plät­ze und Per­so­nal reich­ten nicht mehr aus, um alle Men­schen mit schwe­ren Krank­heits­ver­läu­fen inten­siv­me­di­zi­nisch zu ver­sor­gen. Die Ärz­te­schaft muss­te daher die soge­nann­te „Tria­ge“ anwen­den – also unter Zeit­druck ent­schei­den, wel­che Pati­en­ten behan­delt wer­den und wel­che nicht.

Auch in Deutsch­land wur­de und wird dar­über dis­ku­tiert, wie knap­pe medi­zi­ni­sche Res­sour­cen im Fal­le eines Mas­sen­an­drangs gerecht zu ver­tei­len sind. Ein sol­ches Kata­stro­phen­sze­na­rio wird hier­zu­lan­de im Kon­text der Coro­na-Pan­de­mie wahr­schein­lich nicht ein­tre­ten, aber es ist nach Auf­fas­sung des Hans-Albert-Insti­tuts sinn­voll, ethisch und recht­lich „auf Vor­rat zu den­ken“, um für künf­ti­ge Kata­stro­phen­fäl­le gewapp­net zu sein.

Kritik der Empfehlung des Deutschen Ethikrats

Der Deut­sche Ethik­rat hat sich bereits im ver­gan­ge­nen Jahr mit einer „Ad-hoc-Emp­feh­lung“ zur Fra­ge der Tria­ge posi­tio­niert. Die heu­te ver­öf­fent­lich­te Stel­lung­nah­me des Hans-Albert-Insti­tuts (HAI) setzt sich kri­tisch mit die­ser Emp­feh­lung aus­ein­an­der. So argu­men­tie­ren die Autoren und die Autorin des Insti­tuts (Adria­no Man­ni­no, Mari­na More­no, Flo­ri­an Che­fai, Nikil Muker­ji, Tho­mas Met­zin­ger, Franz-Josef Wetz und Die­ter Birn­ba­cher) ent­ge­gen der Ansicht des Ethik­ra­tes, dass die Lebens­zeit eines Pati­en­ten sehr wohl ein ethisch legi­ti­mes und wich­ti­ges Kri­te­ri­um für die Ver­tei­lung knap­per inten­siv­me­di­zi­ni­scher Res­sour­cen sei und daher berück­sich­tigt wer­den sollte.

Um dies zu gewähr­leis­ten, müs­se man auch kei­nes­wegs, wie der Deut­sche Ethik­rat unter­stellt, für einen „rein uti­li­ta­ris­ti­schen Modus des Abwä­gens im Sin­ne einer blo­ßen Maxi­mie­rung von Men­schen­le­ben oder Lebens­jah­ren“ ein­tre­ten, wel­cher mit dem Grund­ge­setz unver­ein­bar wäre. Denn die Berück­sich­ti­gung der Lebens­zeit in Tria­ge-Ent­schei­dun­gen wider­spricht nach Auf­fas­sung der HAI-Autoren weder dem Ver­fas­sungs­prin­zip der unan­tast­ba­ren Wür­de des Ein­zel­nen noch der damit ein­her­ge­hen­den Unver­re­chen­bar­keit des mensch­li­chen Lebens. Sie sei viel­mehr aus Gerech­tig­keits­grün­den, näm­lich auf Basis der ver­fas­sungs­recht­lich gefor­der­ten Gleich­ach­tung aller Bür­ge­rin­nen und Bür­ger, geboten.

Hier­zu heißt es in der HAI-Stel­lung­nah­me: „Alte Men­schen sind pri­vi­le­giert bzw. bes­ser gestellt, inso­weit ihr Leben reich an Jah­ren ist. Jun­ge Men­schen sind in die­ser Hin­sicht deut­lich unter­pri­vi­le­giert, soll­ten sie ster­ben. Lässt ein Tria­ge-Ver­fah­ren die bereits ver­stri­che­ne Lebens­zeit unbe­rück­sich­tigt und ret­tet einen hoch­be­tag­ten Men­schen anstel­le eines jun­gen, ver­teilt es das vitals­te aller Güter von den ent­spre­chend Armen zu den Rei­chen sozu­sa­gen um. Es macht den an Lebens­jah­ren Rei­chen noch rei­cher, wäh­rend der an Lebens­jah­ren Arme arm bleibt.“ Alle plau­si­blen Gerech­tig­keits­theo­rien schlös­sen einen “Vor­rang der Unter­pri­vi­le­gier­ten bzw. Schlech­ter­ge­stell­ten” ein. Aus die­sem Grund sei ins­be­son­de­re auch den jün­ge­ren Men­schen mit Vor­er­kran­kun­gen und Behin­de­run­gen ein zusätz­li­cher, star­ker Gerech­tig­keits­vor­rang ein­zu­räu­men. Auf die­se Wei­se las­se sich am plau­si­bels­ten ver­mei­den, dass sie unge­recht benach­tei­ligt werden.

Des Wei­te­ren pro­ble­ma­ti­sie­ren die Autoren die Ein­schät­zung des Ethik­ra­tes bezüg­lich der soge­nann­ten „Ex-post-Tria­ge“. Im Rah­men der Ex-post-Tria­ge wer­den Pati­en­ten nach­träg­lich vom Beatmungs­ge­rät getrennt, damit höher prio­ri­sier­te Pati­en­ten über­le­ben kön­nen. Der Ethik­rat hat­te in die­sem Zusam­men­hang betont, dass das akti­ve Been­den einer lau­fen­den Behand­lung zum Zweck der Ret­tung eines Drit­ten nicht rech­tens sei. Den­noch könn­ten Ärz­te mit einer “ent­schul­di­gen­den Nach­sicht der Rechts­ord­nung” rech­nen, wenn sie ex post triagierten. 

Dem hal­ten die Autoren der HAI-Stel­lung­nah­me ent­ge­gen, dass nicht ein­sich­tig sei, war­um die Ex-post-Tria­ge ent­schul­digt wer­den soll­te, wenn man sie für rechts­wid­rig hält. Die Ärz­te­schaft habe daher allen Grund, ange­sichts der Stel­lung­nah­me des Ethik­rats beun­ru­higt zu sein: “Wür­de die Ex-Post-Tria­ge als rechts­wid­rig ein­ge­stuft, hät­te dies nicht nur zur Fol­ge, dass – auch gemäß dem Ethik­rat sehr nach­voll­zieh­ba­re – ethi­sche Gewis­sens­ent­schei­dun­gen unzu­läs­sig kri­mi­na­li­siert wür­den. Dar­über hin­aus wären Ärz­te der inak­zep­ta­blen Situa­ti­on aus­ge­setzt, recht­mä­ßi­ge Not­wehr­hand­lun­gen gegen ihre eige­ne Per­son in Kauf neh­men zu müs­sen”, soll­ten sie ex post tria­gie­ren. Eine sol­che Rechts­pra­xis wäre struk­tu­rell höchst irra­tio­nal und kön­ne ethisch nicht ver­tre­ten wer­den. Es sei plau­si­bler, die Ex-post-Tria­ge nicht als rechts­wid­ri­ge Tat ein­zu­stu­fen, son­dern als Not­stands­lö­sung, die allen Pati­en­ten eine gerech­te Chan­ce auf die knap­pen Res­sour­cen ermög­licht – auch den­je­ni­gen, die “zu spät” auf der Inten­siv­sta­ti­on eintreffen.

Ärzte nicht zusätzlich mit ungeklärten Fragen belasten

Grund­sätz­lich sei es gebo­ten, die Ärz­te­schaft nicht mit offe­nen Fra­gen der Ethik und der Rechts­wis­sen­schaft zu belas­ten oder ihnen gar mit einer straf­recht­li­chen Ver­fol­gung zu dro­hen. Das Recht sei daher auf­ge­ru­fen, ärzt­li­chen Gewis­sens­ent­schei­dun­gen, die im Kata­stro­phen­fall unter Umstän­den gefällt wer­den müs­sen, bis auf Wei­te­res Raum zu lassen. 

Weder in der Ethik noch in der Rechts­wis­sen­schaft, der Gesund­heits­öko­no­mie oder der Medi­zin selbst bestehe bis­her Einig­keit in der Fra­ge, ob und wie eine Ver­tei­lung von Über­le­bens­chan­cen bei Res­sour­cen­knapp­heit gere­gelt wer­den soll­te. Die resul­tie­ren­de Unge­wiss­heit sei anzu­er­ken­nen und trans­pa­rent zu kom­mu­ni­zie­ren. “Sie gebie­tet – im libe­ra­len Rechts­staat – nicht zuletzt auch eine Zurück­hal­tung bezüg­lich straf­recht­li­cher Ver­fol­gung, die als schärfs­tes Schwert des Staa­tes nur unter restrik­ti­ven nor­ma­ti­ven Vor­aus­set­zun­gen gewählt wer­den darf”, so die Ethi­ker des Hans-Albert-Instituts.

Notwendigkeit einer offenen Debatte

In der Stel­lung­nah­me wei­sen die Autoren dar­auf hin, dass auch inner­halb des Hans-Albert-Insti­tuts unter­schied­li­che Posi­tio­nen ver­tre­ten und dis­ku­tiert wer­den. Weder liegt ein Kon­sens hin­sicht­lich der Aus­wahl­kri­te­ri­en noch der Zuläs­sig­keit der Ex-Post-Tria­ge vor. Die bestehen­de Mei­nungs­plu­ra­li­tät ver­steht das Insti­tut als Anlass, sich auch künf­tig inten­siv mit dem The­ma zu beschäf­ti­gen. Denn eine offe­ne Debat­te, in der unter­schied­li­che Stand­punk­te Gehör fin­den, kön­ne auch zur Ver­trau­ens­bil­dung und Stär­kung des libe­ra­len Rechts­staa­tes beitragen.

Exis­ten­zi­el­le Ent­schei­dun­gen müs­sen schließ­lich nicht nur auf Inten­siv­sta­tio­nen getrof­fen wer­den. Die damit ver­bun­de­nen Fra­gen drän­gen sich in ähn­li­cher Form bei­spiels­wei­se auch bei der Zutei­lung von Spen­der­or­ga­nen, der Ver­tei­lung knap­per Gel­der im Bereich der der Ent­wick­lungs­zu­sam­men­ar­beit, der Ver­ga­be von Kli­ma­pflich­ten bzw. von Emis­si­ons­rech­ten und der Zutei­lung knap­per Impf­stof­fe auf.

Ent­spre­chen­de Über­le­gun­gen zur Impf-Tria­ge hat­ten die HAI-Bei­rä­te Adria­no Man­ni­no und Nikil Muker­ji bereits Anfang März in der FAZ aus­ge­führt. Sie plä­dier­ten dafür, die Impf­rei­hen­fol­ge aus Gerech­tig­keits­grün­den sofort zu fle­xi­bi­li­sie­ren. 70-Jäh­ri­ge bei­spiels­wei­se hät­ten nach aktu­el­ler Stu­di­en­la­ge gegen­über 60-Jäh­ri­gen eine unge­fähr dop­pel­te Ster­be­wahr­schein­lich­keit, wenn sie sich mit dem Coro­na­vi­rus infi­zie­ren. Doch dar­aus fol­ge nicht, dass sie auch ein dop­pel­tes Risi­ko tra­gen, denn Risi­ken sei­en immer durch min­des­tens zwei Fak­to­ren bestimmt: die Scha­dens­wahr­schein­lich­keit und das Scha­dens­aus­maß. Im Todes­fall ver­lie­ren 60-Jäh­ri­ge im Schnitt unge­fähr dop­pelt so vie­le Lebens­jah­re wie 70-Jäh­ri­ge, und sie gehö­ren zu den ver­gleichs­wei­se Schlech­ter­ge­stell­ten. Aus die­sen Grün­den sei es unge­recht, 60-Jäh­ri­ge gegen­über 70-Jäh­ri­gen in der Impf-Tria­ge zu benachteiligen. 

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