Florian Chefai • 31.03.2021

“Wir stehen am Ende von 3.000 Jahren Kulturgeschichte”

Bei der globalen Klimakatastrophe steht nicht weniger als der Fortbestand der menschlichen Zivilisation auf dem Spiel, schreibt der Philosoph und Historiker Philipp Blom in seinem neuen Essay „Das große Welttheater“. Im Interview erklärt er, wieso wir nur überleben werden, wenn wir uns nicht länger als „Krone der Schöpfung“ verstehen, sondern als eine Primatenart, die vom Aussterben bedroht ist.

Sie haben sich in Ihren frü­he­ren Wer­ken haupt­säch­lich mit den Umbrü­chen ver­gan­ge­ner Zei­ten aus­ein­an­der­ge­setzt. Inzwi­schen wid­men Sie sich auch den gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lun­gen unse­rer Zeit. Wor­an liegt es, dass Sie sich als His­to­ri­ker nun ver­stärkt mit der Gegen­wart beschäftigen?

Für einen His­to­ri­ker gibt es kei­ne groß­ar­ti­ge­re Zeit zu leben als jetzt. Wir leben näm­lich in einer Zeit, in der eine his­to­ri­sche Epo­che endet und eine neue beginnt. Einen sol­chen Umbruch selbst zu erfah­ren und zu stu­die­ren, ist für mich als His­to­ri­ker über­aus fas­zi­nie­rend. Es geht bei Geschich­te ja nicht dar­um, wann wel­cher Kai­ser auf wel­chem Thron saß, son­dern viel­mehr um gesell­schaft­li­che Struk­tu­ren, um das Bestehen von Kräf­te­ver­hält­nis­sen und von intel­lek­tu­el­len Kon­stel­la­tio­nen. Die­se ana­ly­ti­sche Per­spek­ti­ve kann man auch auf heu­te anwen­den, um die gegen­wär­ti­gen Ent­wick­lun­gen zu verstehen.

Als Mensch fin­de ich unse­re Zeit zugleich sehr beängs­ti­gend. Schließ­lich lebe ich in ihr und muss die Luft um mich her­um atmen. Durch mei­ne Bücher ver­su­che ich, Men­schen zu errei­chen und zumin­dest einen klei­nen Bei­trag zu aktu­el­len Dis­kur­sen wie dem Kli­ma­wan­del zu leis­ten. Die Welt ist zu span­nend, um taten­los bei ihrer Zer­stö­rung zuzu­se­hen. Und ich bin noch zu jung, um mich ein­fach zurück­zu­leh­nen und Wein zu trin­ken. Dabei mache ich mir aller­dings kei­ne Illu­sio­nen, dass wir indi­vi­du­ell die Geschich­te so beein­flus­sen könn­ten, dass auf ein­mal alles anders wird.

Wo fin­den heu­te kon­kret Umbrü­che statt und was sind die gro­ßen Schei­de­punk­te unse­rer Zeit?

Der gro­ße Schei­de­punkt unse­rer Zeit ist die Kli­ma­ka­ta­stro­phe. Wir ste­hen vor einer Kas­ka­de von kata­stro­pha­len Ent­wick­lun­gen, die dar­aus her­rüh­ren, dass wir immer tie­fer in die Natur ein­grei­fen. Dabei geht es nicht um die pater­na­lis­ti­sche Vor­stel­lung, dass wir als Men­schen den Pla­ne­ten zer­stö­ren. Selbst wenn wir die Bio­di­ver­si­tät dra­ma­tisch redu­zie­ren und uns damit selbst von die­sem Pla­ne­ten eli­mi­nie­ren, wird es näm­lich nur ein paar tau­send Jah­re dau­ern, bis die Erde wie­der blüht und gedeiht – nur eben ohne uns.

Ent­schei­dend ist also viel­mehr, die Mög­lich­keit dafür zu schaf­fen, wei­ter­hin auf die­sem Pla­ne­ten über­le­ben zu kön­nen. Nicht im erbit­ter­ten Kampf um Res­sour­cen, son­dern als zivi­li­sier­te Men­schen, die ver­su­chen, die Welt etwas bes­ser zu hin­ter­las­sen, als sie sie selbst vor­ge­fun­den haben. Das Gan­ze wird nicht ein­fach sein. Es ist eine exis­ten­zi­el­le Her­aus­for­de­rung von his­to­ri­schem Aus­maß, die wir der­zeit noch noch nicht aus­rei­chend ernst nehmen.

Bis­her wur­de nicht wirk­lich etwas unter­nom­men, was einen ech­ten Wan­del her­bei­füh­ren könn­te. Mei­nen Sie, dass wir das Ruder noch her­um­rei­ßen können?

Ich bin kein Pro­phet, son­dern His­to­ri­ker. Ob wir die­se Her­aus­for­de­rung meis­tern wer­den, kann ich nicht sagen. Im Moment sieht es jeden­falls nicht gut aus. Weder bei den wis­sen­schaft­li­chen Fak­ten noch bei der demo­kra­ti­schen Mei­nungs­bil­dung. Die Kli­ma­ta­stro­phe ist ein glo­ba­les Pro­blem, das nur glo­bal gelöst wer­den kann. Es hät­te daher kei­nen Sinn, wenn Deutsch­land mor­gen eine CO2-freie Wirt­schaft hat, solan­ge in ande­ren Regio­nen der Welt unvor­stell­bar gro­ße Flä­chen der Regen­wäl­der gero­det wer­den. Vor der Coro­na-Pan­de­mie waren es welt­weit drei­ßig Fuß­ball­fel­der Regen­wald pro Minu­te, die ver­schwin­den. Das ist erschre­ckend und macht deut­lich, wie wenig Zeit uns noch bleibt.

Sie gehen davon aus, dass das mensch­li­che Han­deln von Ideen und Nar­ra­ti­ven gelei­tet wird. Wel­che Ein­stel­lun­gen hin­dern uns dar­an, ver­ant­wor­tungs­voll mit unse­rer Umwelt umzugehen?

Dar­auf gibt es eine Kurz­zeit- und eine Lang­zeit­ant­wort. Die Kurz­zeit­ant­wort ist der all­mäch­ti­ge Markt, der völ­lig außer Kon­trol­le gera­te­ne Hyper­ka­pi­ta­lis­mus. Womit ich nicht mei­ne, dass Märk­te an sich schlecht sind oder der Kapi­ta­lis­mus an sich böse ist. Ein Markt kann bei­spiels­wei­se die Demo­kra­tie för­dern, weil er eine prag­ma­ti­sche Tole­ranz ver­langt. Für das Geschäft ist es näm­lich erst ein­mal egal, wel­che pri­va­ten Ansich­ten jemand hat oder wel­che sexu­el­le Prä­fe­ren­zen er besitzt, solan­ge Ver­trä­ge ein­ge­hal­ten werden.

Markt und Kapi­ta­lis­mus sind aber nur dann kon­struk­tiv, wenn sie ein Teil der Gesell­schaft sind, wel­che damit Zie­le rea­li­siert, die sie sonst nicht rea­li­sie­ren könn­te. Bei der Coro­na-Pan­de­mie haben wir nun sehr deut­lich gese­hen, dass der Markt auf bestimm­te Pro­ble­me kei­ne Ant­wor­ten hat. So haben Markt­me­cha­nis­men etwa bei der Bereit­stel­lung von medi­z­ni­scher Aus­rüs­tung ver­sagt. Und wir haben deut­lich gese­hen, dass die Prio­ri­tä­ten des Mark­tes nicht zwangs­läu­fig die Prio­ri­tä­ten einer Gesell­schaft sein müs­sen. Des­halb haben wir uns auch dafür ent­schie­den, alte Men­schen zu schüt­zen, die nicht öko­no­misch pro­duk­tiv sind und die den Staat Geld kos­ten. Als Gesell­schaft haben wir aus guten Grün­den völ­lig mark­tun­kon­form gehandelt.

Die Idee des ewi­gen Wirt­schafts­wachs­tums und der all­um­fas­sen­den Pro­fi­ta­bi­li­tät ist eine Idee, die uns auch in Bezug auf die Kli­ma­ka­ta­stro­phe die Sicht ver­sperrt. Der Markt kann hier durch­aus eine Rol­le bei der Lösung des Pro­blems spie­len, doch er wird mit sei­nen eige­nen Prio­ri­tä­ten kei­nes­falls ein Erlö­ser sein, der die Bedürf­nis­se der Men­schen aus­rei­chend berücksichtigt.

Und die Langzeitantwort?

Die führt uns etwas wei­ter zurück auf die bibli­sche Idee “Macht euch die Erde unter­tan”. Sie geht davon aus, dass der Mensch die “Kro­ne der Schöp­fung” sei, die sich frei an der Natur als Mate­ri­al­la­ger bedie­nen kann. Das war lan­ge Zeit eine kon­struk­ti­ve Idee, weil sie dazu geführt hat, dass Gesell­schaf­ten über sich selbst hin­aus­ge­wach­sen sind. Zumin­dest in Euro­pa hat die­se Idee so lan­ge funk­tio­niert, bis Erd­öl im gro­ßen Stil ver­wen­det wur­de. Seit­dem sind Pro­duk­ti­vi­tät, Wohl­stand und damit auch der Kon­sum dra­ma­tisch ange­stie­gen. Dies führ­te zwar zu einem enor­men zivi­li­sa­to­ri­schen Fort­schritt, zugleich aber auch zu einer zuneh­men­den Aus­beu­tung der Natur. Wäh­rend sie anfangs lokal begrenzt und rever­si­bel war, beschleu­nig­te sie sich im Lau­fe der Zeit so enorm, dass dadurch die Lebens­grund­la­ge unse­rer Spe­zi­es unter­gra­ben wird. Nicht in eini­gen Jahr­hun­der­ten, son­dern in weni­gen Jahr­zehn­ten könn­te dies zu einem kata­stro­pha­len Kol­laps der mensch­li­chen Zivi­li­sa­ti­on führen.

Inso­fern kann man durch­aus sagen, dass wir heu­te am Ende von 3.000 Jah­ren Kul­tur­ge­schich­te ste­hen. Wir wer­den näm­lich nur dann über­le­ben, wenn wir unse­ren Platz inner­halb der Natur fin­den. Nicht als “Kro­ne der Schöp­fung”, son­dern als eine Pri­ma­ten­art, die vom Aus­ster­ben bedroht ist.

“Es ist wich­tig, neue Erfah­run­gen zu machen und aus ihnen her­aus zu ver­su­chen, neue Erklä­rungs­mus­ter zu suchen. So ent­ste­hen Ris­se im alten Welt­bild, durch die etwas Licht ein­drin­gen kann.”

Unser der­zei­ti­ger Umgang mit der Natur folgt eher dem Mot­to “Nach uns die Sint­flut”. Der Glau­be an eine bes­se­re Zukunft scheint ver­lo­ren gegan­gen zu sein …

Das ist eine sehr gefähr­li­che Idee. Hin­ter ihr steht eine Aus­ver­kaufs­men­ta­li­tät, die sich zwar in einer kom­for­ta­blen Gegen­wart wähnt, aber kei­ne Per­spek­ti­ve für eine Zukunft hat, in der es sich zu leben lohnt. Für Gesell­schaf­ten ist die­se Hal­tung zer­stö­re­risch. Wenn es für Men­schen kei­ne ratio­na­le Hoff­nung mehr gibt, wer­den sie leicht zynisch und lau­fen Bau­ern­fän­gern hinterher.

Der Sozio­lo­ge Zyg­munt Bau­mann sprach in die­sem Zusam­men­hang ein­mal von “Retro­to­pie”. Die Idee des Fort­schritts ver­hei­ße heu­te weni­ger die Aus­sicht auf eine Ver­bes­se­rung der per­sön­li­chen Lage als die Angst davor, abge­hängt und zurück­ge­las­sen zu wer­den. Daher wür­den sich vie­le von der Zukunft abwen­den und sich nach der Rück­kehr einer ver­klär­ten Ver­gan­gen­heit seh­nen. Es ist gewis­ser­ma­ßen die Hoff­nung, dass es wie­der so wird, wie es nie­mals war.

Ja, so ist das. Wie die Welt eigent­lich zu sein hat und was nor­mal ist, wird in den aller­meis­ten Fäl­len durch die Kind­heit defi­niert. Lan­ge Zeit waren das aus ver­ständ­li­chen bio­gra­fi­schen Grün­den die Fünf­zi­ger­jah­re. Zufäl­li­ger­wei­se sind wir alle aber zu unter­schied­li­chen Zeit­punk­ten Kin­der gewe­sen. Die ver­schie­de­nen Vor­stel­lun­gen von dem, was als “nor­mal” anzu­se­hen ist, sind des­halb mit Kon­flik­ten ver­bun­den, auch weil es kei­ne gemein­sa­me Visi­on einer ver­nünf­ti­gen Zukunft zu geben scheint.

Dabei gäbe es doch gute Grün­de, sich der Zukunft nicht zu ver­schlie­ßen, son­dern auf­ge­schlos­sen zuzu­wen­den. Die Welt, in der wir heu­te leben, ist zu einer der fried­lichs­ten in der Mensch­heits­ge­schich­te gewor­den. In rasan­tem Tem­po wur­den zivi­li­sa­to­ri­sche Fort­schrit­te erzielt, die vor hun­dert Jah­ren noch undenk­bar gewe­sen wären. Hun­ger, Gewalt, Analpha­be­tis­mus und Kin­der­sterb­lich­keit sind laut den Sta­tis­ti­ken in den ver­gan­ge­nen Jahr­hun­der­ten deut­lich gesunken.

Sol­che Zah­len­spie­le, die immer wie­der ange­stellt wer­den, sind sehr pro­ble­ma­tisch. Wenn man bei­spiels­wei­se sagt, dass es im 20. Jahr­hun­dert viel weni­ger Gewalt gege­ben hat, ist das sicher zutref­fend für Men­schen, die in Süd­ame­ri­ka gelebt haben. Nicht zutref­fend ist es für Men­schen, die in Litau­en, Polen oder Kam­bo­dscha gelebt haben. Kumu­la­tiv mag es posi­ti­ve Ent­wick­lun­gen gege­ben haben. Aber sie beru­hen im Prin­zip dar­auf, dass wir eine Wirt­schaft haben, die die Grund­la­gen unse­res Über­le­bens unter­gräbt und die wir des­halb nicht wei­ter­füh­ren kön­nen. Ent­we­der endet sie in einer Kata­stro­phe oder wir müs­sen sie in etwas über­füh­ren, das Bestand haben wird.

Wodurch wür­de ein sich ein nach­hal­ti­ges Wirt­schaf­ten auszeichnen?

Not­wen­dig wäre ein radi­ka­ler Green New Deal, der über die kos­me­ti­schen Maß­nah­men hin­aus­geht, die der­zeit von Poli­ti­kern beschlos­sen wer­den. Ein ambi­tio­nier­tes Ziel wäre es, dass ganz Euro­pa durch grü­ne Ener­gie in höchs­tens 20 Jah­ren CO2-neu­tral sein muss. Man wür­de damit en pas­sant auch die Tech­no­lo­gie und Exper­ti­se erhal­ten, die dem­nächst über­all auf der Welt gebraucht wer­den. In nicht weit ent­fern­ter Zukunft wird dies ein mas­si­ver Wett­be­werbs­vor­teil sein.

Es kann jeden­falls nicht nur dar­um gehen, bloß eine CO2-Steu­er ein­zu­füh­ren. Denn wenn Men­schen sol­che Maß­nah­men nicht mit ihrem Wil­len unter­stüt­zen, wer­den sie die betref­fen­den Regie­run­gen abwäh­len oder die Vor­ga­ben igno­rie­ren. Hin­zu kommt, dass Unter­neh­men inzwi­schen eine grö­ße­re und fle­xi­ble­re Macht haben, weil sie sich nicht in einem abge­grenz­ten Ter­ri­to­ri­um bewe­gen. Sie kön­nen damit dro­hen, einen Pro­duk­ti­ons­stand­ort in ein ande­res Land zu ver­la­gern, was zu höhe­rer Arbeits­lo­sig­keit führt. Dadurch wird die Hand­lungs­fä­hig­keit eines Staa­tes sehr stark aus­ge­he­belt. Legis­la­tiv lässt sich das Pro­blem daher letzt­lich nur auf inter­na­tio­na­lem Niveau lösen.

Was fehlt, damit Men­schen den erfor­der­li­chen Wil­len auf­brin­gen, ver­ant­wor­tungs­voll zu handeln?

Es bräuch­te ein neu­es Selbst­ver­ständ­nis, das an die Über­le­gun­gen der Auf­klä­rung anschließt. Denn die Auf­klä­rung for­der­te nicht nur Ratio­na­li­tät und Men­schen­rech­te, son­dern ver­such­te den Men­schen auch als Teil der Natur zu ver­ste­hen. Auf­klä­re­ri­sche Wis­sen­schaft­ler des 18. Jahr­hun­derts wie Comte de Buf­fon beschrie­ben den Men­schen zum ers­ten Mal in sei­ner frap­pie­ren­den Ähn­lich­keit zu Pri­ma­ten. Schon vor Dar­win erstell­ten sie Stamm­bäu­me der Ent­wick­lungs­ge­schich­te, die den Men­schen als bio­lo­gi­sches Wesen in der Natur statuierten.

Die­sen rea­lis­ti­schen Ansatz gilt es heu­te wei­ter­zu­den­ken. Der Phi­lo­soph Bru­no Latour erkann­te ein­mal rich­tig, dass wir nicht auf der Erde, son­dern in der kri­ti­schen Zone leben – also der win­zi­gen Mem­bran zwi­schen dem toten Gestein unter unse­ren Füßen und der ewi­gen Lee­re über unse­ren Köp­fen. Unse­re Atmo­sphä­re wird dabei kon­sti­tu­iert und beein­flusst durch unend­lich vie­le Fak­to­ren, von Mikro­ben über Jet­streams bis hin zu mensch­li­cher Gesetzgebung.

Wenn wir unse­re Ver­wo­ben­heit mit dem Rest der Natur end­lich aner­ken­nen wür­den, wäre das der Anfang eines loh­nen­den Men­schen­bil­des. Mit ihm wür­de man Abstand von der Vor­stel­lung neh­men, dass wir die Natur beherr­schen und aus­beu­ten kön­nen. Es wäre die Vor­aus­set­zung dafür, den wis­sen­schaft­li­chen, poli­ti­schen und legis­la­ti­ven Kli­ma­schutz-Initia­ti­ven ein ech­tes Wol­len zur Sei­te zu stellen.

Vie­le Men­schen emp­fin­den es als Krän­kung, sich selbst als Natur­we­sen oder gar als Pri­ma­ten anzu­se­hen. War­um fällt es uns so schwer, unser Welt- und Men­schen­bild trotz bes­se­ren Wis­sens radi­kal in Fra­ge zu stellen?

Wir sind nun mal alle Kin­der unse­rer Zeit. Es ist enorm schwie­rig, etwas zu den­ken und zu ver­tre­ten, was die Men­schen um einen her­um nicht den­ken – ins­be­son­de­re wenn man sie schätzt, respek­tiert und liebt. Weil das so schwie­rig ist, ist es natür­lich sehr viel ein­fa­cher, etwas zu ver­tre­ten, was sich auf gewohn­te Struk­tu­ren stützt.

Den eige­nen Gedan­ken dort­hin zu fol­gen, wo man ihnen eigent­lich nicht hin­fol­gen möch­te, ist viel­leicht eine der größ­ten Her­aus­for­de­run­gen. Denn dort wer­den Ansich­ten in Fra­ge gestellt, die einem viel bedeu­ten. Es ist daher wich­tig, neue Erfah­run­gen zu machen und aus ihnen her­aus zu ver­su­chen, neue Erklä­rungs­mus­ter zu suchen. So ent­ste­hen Ris­se im alten Welt­bild, durch die etwas Licht ein­drin­gen kann.

Kann die Coro­na-Kri­se als eine neue Erfah­rung gese­hen wer­den, aus der wir ler­nen können?

Es wäre illu­sio­när zu mei­nen, dass wir als Gesell­schaft nun geläu­tert aus die­ser Kri­se her­vor­ge­hen wer­den. Aller­dings hat sie immer­hin eines gezeigt: Frü­her haben die Kri­ti­ker des ent­fes­sel­ten Neo­li­be­ra­lis­mus immer wie­der zu hören bekom­men, dass das unge­brems­te Wirt­schafts­wachs­tum eine not­wen­di­ge Vor­aus­set­zung für Demo­kra­tie und Frei­heit sei. Angeb­lich sei es unmög­lich, die­se Maschi­ne anzu­hal­ten, ohne dass eine Kata­stro­phe mit ver­hee­ren­den Kon­se­quen­zen ein­tritt. Aber dann ist genau das pas­siert. Gesell­schaf­ten haben ent­schie­den, ihre eige­nen Inter­es­sen über Markt­in­ter­es­sen zu stellen.

Man darf natür­lich nicht beschö­ni­gen, dass die­se Ent­schei­dung eine mas­si­ve Wirt­schafts­kri­se nach sich gezo­gen hat, bei der vie­le mensch­li­che Exis­ten­zen gefähr­det und ver­nich­tet wur­den. Damit ver­bun­den war jedoch auch das theo­re­ti­sche und prak­ti­sche Ver­ste­hen davon, dass Din­ge auch anders lau­fen kön­nen als bis­her. Es wur­de deut­lich, dass Gesell­schaf­ten doch noch Kon­trol­le dar­über haben, wie sie leben wol­len. Das hat einen Prä­ze­denz­fall geschaf­fen, der in fol­gen­den Dis­kus­sio­nen über die nächs­ten Jahr­zehn­te nicht mehr weg­zu­re­den ist. Ob dar­aus recht­zei­tig die rich­ti­gen Schlüs­se gezo­gen wer­den, kön­nen wir jetzt noch nicht sagen. Sicher ist jedoch, dass sich die­ser Prä­ze­denz­fall als sehr wich­tig erwei­sen wird.

Vor allem die Wis­sen­schaft hat im Zuge der Pan­de­mie ver­lo­re­nes Ver­trau­en in der Bevöl­ke­rung zurückgewonnen.

Ich bin mir nicht sicher, ob der Ver­trau­ens­zu­wachs tat­säch­lich so groß ist, wie wir das gera­de ger­ne glau­ben. Aus der Dring­lich­keit des Moments her­aus wur­de die Wis­sen­schaft auf ein­mal das stärks­te Ent­schei­dungs­kri­te­ri­um für die Poli­tik, auch weil sie unmit­tel­ba­re Resul­ta­te lie­fer­te. Deut­lich wur­de jeden­falls, dass die Leug­nung wis­sen­schaft­li­cher Tat­sa­chen nicht wei­ter­hilft. In Gha­na gab es bei­spiels­wei­se einen Pfar­rer, der COVID-19 durch Hand­auf­le­gen hei­len woll­te und lei­der selbst an der Krank­heit gestor­ben ist. Da waren Ursa­che und Kon­se­quenz unmit­tel­bar sicht­bar, eben­so wie die zutref­fen­den Pro­gno­sen von Wissenschaftlern.

Wenn es aber dar­um geht, poli­ti­sche Prio­ri­tä­ten zu set­zen, geht es nicht mehr pri­mär um wis­sen­schaft­li­che Wahr­hei­ten, son­dern um Inter­es­sen und Prin­zi­pi­en. Der Pro­zess der Ent­schei­dungs­fin­dung wird dadurch wie­der wesent­lich poli­ti­siert. Es gibt vie­le Men­schen, die von Grund auf leug­nen, dass es über­haupt eine Pan­de­mie gibt und die allen mög­li­chen Ver­schwö­rungs­theo­rien hin­ter­her­lau­fen. Ich glau­be daher nicht, dass wir nun in eine Zeit gekom­men sind, in der Men­schen end­lich die Wis­sen­schaft akzep­tie­ren. Denn letzt­lich wird sich nicht die wis­sen­schaft­lich sau­bers­te und logischs­te Posi­ti­on durch­set­zen, son­dern die­je­ni­ge, die am meis­ten emo­tio­na­le Reso­nanz bereithält. 

Phil­ipp Blom ist Schrift­stel­ler, His­to­ri­ker, Jour­na­list und Über­set­zer. Er stu­dier­te Phi­lo­so­phie, Geschich­te und Juda­is­tik in Wien und Oxford. Sei­ne Schrif­ten publi­ziert er u. a. in The Inde­pen­dent, Finan­cial Times, The Guar­di­an, Die Zeit, NZZ, FAZ, Süd­deut­sche Zei­tung und Der Standard.

Blom ist Bei­rats­mit­glied der Gior­da­no-Bru­no-Stif­tung und wur­de im März 2017 in den Stif­tungs­rat des Frie­dens­prei­ses des Deut­schen Buch­han­dels berufen.

Sein Buch „Das gro­ße Welt­thea­ter. Von der Macht der Vor­stel­lungs­kraft in Zei­ten des Umbruchs“ ist 2020 im Zsol­nay Ver­lag erschienen.